Full text: Die Praxis des gleitenden Übergangs in den Ruhestand

3, Der GÜR-_als Überbetriebliche Regelung 
Wie im Abschnitt 2.1 ausgeführt, ist betriebliche Personalpolitik, hier 
konkret betriebliche Verrentungspolitik, eingebettet in ein System indu-— 
strieller Arbeitsbeziehungen (Industrial Relations System). Die hier ange -— 
sprochene überbetriebliche bzw. makroskopische Betrachtungsweise ist 
durch ein wesentliches Grundelement unserer freiheitlich demokratischen 
Grundordnung gekennzeichnet, die Tarifautonomie. Diese im Art. 9 Abs. 3 
Grundgesetz verankerte Regelung gestattet den Tarifparteien, ohne staat -— 
liche Einwirkungen Verträge über Arbeitsentgelt und - bedingungen ab- 
zuschließen und auf diese Weise Probleme der Arbeitswelt zu bewältigen 
und einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen herbeizuführen. 
Dem Staat kommt lediglich die Aufgabe zu, eine praktikable (verfas — 
sungs— und arbeitsrechtliche) Rahmenordnung hierfür zu schaffen (Neu - 
tralitätspflicht des Staates gegenüber Verhandlungen der Tarifparteien)‘. 
Zudem beinhaltet der Art.9 Abs.3 die Normen über die Koalitionsfrei — 
heit. Danach besteht sowohl für den einzelnen Arbeitnehmer als auch 
Arbeitgeber die positive (als auch nach herrschender Auffassung "negative") 
Freiheit, sich einer Kollektivorganisation anzuschließen (Organisationszwang 
besteht also nicht)“ >. 
Ist heute von Tarifautonomie (...) die Rede, dann sind im Grunde 
genommen die formalisierten und rechtlich sanktionierten Beziehungen 
zwischen den Arbeitsmarktparteien Gewerkschaften und Arbeitgeberver — 
bänden gemeint; mit anderen Worten: jene kontrollierten Konfliktregelun — 
gen und kollektivvertraglichen Vereinbarungen, die die widerstreitenden 
Das Vorruhestandsgesetz kann als ein solcher gesetzlicher Rahmen gelten, der 
tarıfvertraglich umgesetzt werden kann. 
"Tarifpartei können auf Arbeitgeberseite ein einzelner oder mehrere tarıffähige 
Arbeitgeberverbände oder auch ein einzelner Arbeitgeber sein, auf Arbeitnehmerseite 
nur frei gebildete, auf Dauer angelegte, tarifwillige und grundsätzlich auch zum 
Arbeitskampf bereite, überbetriebliche Zusammenschlüsse (Gewerkschaften). 
(Kleinhenz, G. 1985, S. 190). 
Die negative Koalitionsfreiheit zeigte sich z.B. bei der Anwendung des Vorruhe -— 
standsgesetzes, als es zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Gewerk - 
schaften darüber kam, ob die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft 
einen Anspruchsvorrang vor den nicht — organisierten Arbeitnehmern hätten. Im 
Januar 1987 wurde dieser Streit vorerst vom Bundesarbeitsgericht in Kassel beendet. 
Dessen Urteil (vgl. Bundesarbeitsgericht 4 AZR 547 und 486/86) besagt, daß dieje — 
nigen Kandidaten einen Anspruchsvorrang hätten, die die entsprechenden (Vor- 
ruhestands — Vorraussetzungen (zeitlich) zuerst erfüllen, ein Vorrang von Gewerk- 
schaftsmitgliedern sei jedoch aus Gründen der grundgesetzlich geschützten negativen 
Koalitionsfreiheit unzulässig. Vgl. Deters, J. (1987), S. 21.
	        
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