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stimmigkeiten, Dissonanzen klingen auf, welche, gibt man ihnen
nach, die Zwiespältigkeit der menschlichen Natur schlechthin kenn
zeichnen.
Man muß, will man sich von der Realität der Tragik im Dasein
überzeugen, den Menschen nicht nur in den Augenblicken des Lei
dens und der Verzweiflung aufsuchen, gleichsam dann, wenn die
Tragödie auf dem Höhepunkt angelangt ist; man kann seine Be
obachtungen auch bei anderen Gelegenheiten machen, welche sehr
wenig offiziellen Charakter tragen. Man studiere die unbewußten
Äußerungen von Menschen, man prüfe, was je als Extrakt der
Lebensklugheit gepriesen wird, und man wird ganz erstaunliche
Erfahrungen machen. Man wird dann feststellen, wie der Mensch
ein zutiefst .tragisches Wesen ist, und wie die Verwirrungen und
Irrtümer des Seins eine geradezu, magische Affektion auf ihn aus
üben. Mit jener sinnlosen Instinktivität, 'welche den Schmetterling
in die Nacht-Kerze treibt, wird der Mensch immer wieder auf das
Schädliche, Ungerechte und Maßlose verfallen.
Da ist einmal der so genannte Egoismus. Der Mensch, obschon
er unentwegt den großen Wert von Opfer und Verzicht prokla
miert, erscheint sich immer wieder als Mittelpunkt der Welt. Die
eigene Perspektive ist es, welche ihm allein billig erscheint. In
der Verabsolutierung des persönlichen Standpunktes bleibt er
Meister. Der Einzelne tut in dieser Beziehung, »was alle tun«,
stellt Euripides fest. Und er umreißt diesen Standpunkt kurz und
prägnant: »Lernst du erst heute, daß jeder nur an sich denkt . . .«
Selbst glücklich zu sein und das zu verwirklichen, was man unter
Glück versteht, ist der letzte Sinn des menschlichen Strebens. Selbst
aber, wie man vermeint, unglücklich zu sein und andre im Glanz
zu sehen, das geht über die menschliche Kraft. Auch Freundschaf
ten zerbrechen daran. Aischylos hat es in klarer Erkenntnis der
Dinge ausgesprochen: »Nur wenigen ward es von Geburt her zum
Geschenk, / Den Freund im Glück preisen zu können ohne Neid. /
Stets set^t sich sonst der Mißgunst Gift im Herzen fest, / Dem nur
die Plage doppelnd, den dies Übel traf. / Denn ihn beschwert ein
mal die selbsterschaffne Pein, / Und seufzt auch noch, wenn er
den andern glücklich sieht.« Der angeborene Egoismus hat also
nicht nur zur Folge, daß sich in unsern Augen das eigene Unglück
verdoppelt und verdreifacht — es glaubt ja jeder, mehr tragen zu
müssen als der andere —, sondern schon die Tatsache, daß ein
anderer vom Schicksal ausgezeichnet wird, entfacht in der eigenen
Brust die Flamme des Neides. Das Glück des Freundes schmerzt,
und so sind wir denn, ohne im geringsten direkt betroffen zu sein,
auf dem Umweg über das Glück des anderen traurig und ver
zweifelt. Man erkennt die chronische Neigung des Menschen Zur
Unzufriedenheit, und den Willen, dieser Unzufriedenheit auf jeden
Fall Nahrung zu verschaffen. Denn mag auch das eigene ‘Leben