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TRAGIK DER GLAUBENSL0SIGKE I T
Euripides folgt im Jahre 407 einer Einladung des Königs Arche
laos von Makedonien an dessen Hof nach Pella. Er ist bereits ein
Greis, als er aufbricht, und man wundert sich, daß er es tut. Die
Gründe werden verschiedene sein; da war einmal die sichere Vor
ausahnung, daß der politische Sturz Athens bevorstand, hinzu
kam verbitternde persönliche Erfahrung. Euripides hat nie die
Ehrung der Menge erfahren wie Aischylos und Sophokles, er fühlte
sich verkannt, Preise blieben ihm für seine Dramen fast ganz ver
sagt, dafür verfolgte ihn der Spott der Komödiendichter auf Schritt
und Tritt, welche damals die öffentliche Meinung widerspiegelten
so wie etwa heute die Presse. ,
In diesem, wenn ich so sagen soll, freiwilligen Exil schuf Euripides
noch einige wenige Werke, von denen ein Dionysos-Drama »Die
Bakchen« einen besonderen Platj einnimmt. Euripides sympathi
siert mit der Sophistik, er hat den Skeptiker, den verkappten Athe
isten auf die Bühne gebracht; in ihm bricht, um den viel miß
brauchten Ausdruck zu verwenden, eine »neue Zeit« an. Um so
erstaunter ist man, in der Spätzeit des Dichters auf ein Drama
zu stoßen, welches sich fast ausschließlich religiösen Vorgängen
widmet. Im Mittelpunkt dieses Stückes steht die Erscheinung, die
Epiphanie des Dionysos, der da, wo er auftaucht, bedingungslose
Unterwerfung fordert. Es wird gezeigt, wie Pentheus, König von
Theben, der sich dem rasenden Gotte entzieht, von diesem auf
sanfte Weise überwältigt und seinem rauschbesessenen Gefolge aus
geliefert wird; und wie die Mänaden sonst Rehkälber und andere
Tiere zerreißen, so zerreißen sie jet^t den König, — an der Spitze
die Königs-Mutter selbst, Agaue. Der Gott siegt, das ist die Quint
essenz, wer sich ihm widersetjt, wird mitj Umnachtung geschlagen,
und keine Schuld rächt sich furchtbarer als die Schuld jener, die
sich dem Gotte weigern. Ist nicht dies Ganze ein Hymnus auf
Dionysos, ein Hymnus auf seinen Kult, der über Hellas aufgeht
wie ein Stern, und sollte der alternde Euripides, der jeden Gott
geprüft, jeder Weisheit auf den Grund gegangen ist, sich im leb
ten Augenblick an das Ufer einer religiösen Gewißheit geflüchtet
haben ? Jene, die dies vermuten, nennt Wilamowitj naiv, und er
hat Recht; denn es besteht kein Zweifel, daß dieses Stück keine
Huldigung an Dionysos, keine Unterwerfung unter ihn bedeutet.
Aber für den makedonischen Hof und dessen König war Dionysos
eine Realität; wie konnte der Dichter, der hier zu Gaste war,
einen offenen Angriff auf ihn versuchen, dem alle zu Füßen lagen,
den Gott des Weines, des Rausches und der verzückten Weite?
Freilich, die Sophistik reimt sich schlecht mit der Ekstase zu
sammen, und Ratio und Rausch velhalten sich zueinander wie
Wasser und Feuer. Aber man muß zwischen den Zeilen lesen,