Full text: Lenin, Leben und Werk

170 
Der Schilderung meiner Frau zufolge hielt sich Wladimir 
Iljitsch gerade in irgendwelchen persönlichen Angelegenheiten 
in Krasnojarsk auf, als sie diese Stadt passierte, und beeilte 
sich, sie dort aufzusuchen, um ihre Bekanntschaft zu machen 
und sie bei ihrer Ueberfahrt nach Minusinsk unter seinen Schutz 
zu nehmen. Er hatte auf sie den Eindruck des allerliebens 
würdigsten und umgänglichsten Menschen gemacht, der ihr je 
mals in den Weg gekommen war. Unterwegs erwies er sich 
gegen sie und gegen A, M. Starkowa, die zu ihrem Gatten reiste, 
außerordentlich fürsorglich und aufmerksam. Als während der 
sechstätigen Reise auf dem kleinen Dampfer, der kein Büffet 
besaß, eine Lebensmittelkrise eintrat, erbot er sich, bei den 
Bauern Lebensmittel für die Passagiere aufzutreiben, und be 
gann schnell den hohen, steilen Berg hinaufzuklettern, der fast 
senkrecht zum Jenissej-Fluß abfiel. 
„Hm . , .“, dachte ich damals bei der Lektüre des Briefes 
meiner Frau, „das sieht eigentlich den „Generalsallüren“ gar 
nicht ähnlich , . 
Noch eine Besonderheit an ihm fiel meiner Frau während 
der Dampferfahrt auf. Ihre Koje befand sich in der Nähe der 
Koje von Wladimir Iljitsch, und sie konnte ihn gelegentlich bei 
seiner Lektüre beobachten. Er hielt irgendein ernstes Werk 
in der Hand. Es verging keine halbe Minute, und bereits 
schlugen seine Finger eine neue Seite auf. Sie begann sich 
dafür zu interessieren, ob er das Buch Zeile für Zeile lese oder 
bloß mit den Augen die Seiten überfliege. Wladimir Iljitsch 
erwiderte lächelnd, ein wenig erstaunt über die Frage: 
„Natürlich lese ich, und zwar lese ich sehr aufmerksam, 
denn das Buch ist es wert . . .“ 
Dieser kleine Charakterzug, der die außerordentliche 
Produktivität der Kabinettsarbeit Wladimir Iljitschs kenn 
zeichnet, ist interessant, besonders im Hinblick auf die Tatsache, 
daß er in der Folge im Laufe von etwa anderthalb Jahren sich 
mit dem Studium der philosophischen Literatur in der Pariser 
Nationalbibliothek und im Britischen Museum befaßte und dabei 
Zeit fand, sein bekanntes Buch „Materialismus und Empirio 
kritizismus“ zu schreiben, wo es in diesem Werk Hunderte von
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.