187
mir Iljitsch erfüllte solche Bitten nicht nur dann, wenn die Ge
nossen sich damit an ihn wandten, er sorgte auch selbst, aus
eigenem Antrieb für sie. Wie oft kam es vor, daß er, wenn er
bemerkte, daß dieser oder jener Genosse übermüdet war oder
schlecht ausschaute, ihn zu einem Arzt schickte, dem Zentral
komitee telefonierte, um dem Betreffenden einen Urlaub zu er
wirken, ihm die Möglichkeit der Erholung und Heilung zu ver
schaffen, Alle Augenblicke wandte er sich an mich mit der
Bitte, in Erfahrung zu bringen, wie es diesem oder jenem Ge
nossen gehe, ob er nicht etwas brauche, oder er bat, ihm Lebens
mittel zu senden, einen Pelz zu verschaffen usw.
Aber nicht nur Genossen bewies er eine derartige Aufmerk
samkeit. Sein Verhalten war das gleiche auch jenen gegenüber,
die ihm unbekannt und sogar ganz fremd waren. Sie erinnern
sich der Jahre 1918/19, Sie werden wissen, wieviel Feinde die
Sowjetregierung überall hatte, welch unerbittlichen Kampf sie
gegen diese führen mußte, Wladimir Iljitsch verstand es, gegen
diese Feinde unerbittlich zu sein, aber er verstand auch die
höchste Gerechtigkeit zu üben, wenn er irgendeinen Fehler be
merkte, der jenen gegenüber begangen worden war. Ich will
nur eine kleine Tatsache erwähnen. Man könnte davon viele
anführen, aber ich beschränke mich auf eines. Wir haben dieser
Tage einen Brief erhalten. Der Autor des Schreibens war im
Jahre 1919 zum Tode durch Erschießen verurteilt worden. Seine
Mutter lief, wahnsinnig vor Schmerz, in den Kreml, in der Hoff
nung, zu Lenin durchgelassen zu werden, doch es gelang ihr
nicht, zu ihm zu dringen. Sie kehrt verzweifelt nach Hause
zurück und findet ein ihr durch einen Motorradfahrer zugestelltes
Schreiben von Lenin vor, worin er ihr mitteilt, sie möge sich nicht
aufregen, man könne eine Kassationsklage einreichen und
schließlich auch noch die Allrussische Zentralexekutive um Be
gnadigung bitten. Die Kassationsklage wurde nicht berücksichtigt.
Aber als die Mutter des Verurteilten in die Allrussische Zentral
exekutive kam, um die Begnadigung ihres Sohnes zu erbitten,
empfing der Sekretär sie mit den Worten; „Ich weiß, ich weiß,
Genosse Lenin hat bereits viele Male Ihretwegen angeläutet.“
Schließlich wurde der Verurteilte begnadigt und späterhin sogar
in den Moskauer Sowjet gewählt.