Full text: Lenin, Leben und Werk

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fahr bewußt ward, diesen Boden zu verlieren, damit er ihn zu 
verteidigen sich bereit fand. 
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Es war im Augenblick 
unserer Niederlage im polnischen Kriege, als die Verhandlungen 
in Riga begannen. Ich reiste damals ins Ausland und ging vor 
her zu Iljitsch, um mit ihm über die sich bemerkbar machenden 
Meinungsverschiedenheiten über die Gewerkschaftsfrage zu 
sprechen. Ebenso wie bei der Friedensfrage, wo Lenin mit 
seinem geistigen Auge einen Bauern aus Rjasan vor sich sah und 
sofort wußte, daß dieser Bauer bei dem militärischen Drama die 
entscheidende Person war, daß man sich also nach ihm richten 
mußte, so richtete er sich im Augenblick des Uebergangs vom 
Bürgerkriege zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Rußlands nach 
dem Durchschnittsarbeiter, ohne den die Wirtschaft nicht auf ge 
baut werden konnte. Worin bestand bei ihm der Kern der Frage? 
In Parteiversammlungen sprach man von der Rolle der Gewerk 
schaftsverbände in der Wirtschaft, von dem Zusammenschweißen 
der Gewerkschafts- mit den Wirtschaftsorganisationen und kam 
so zu Streitigkeiten über Syndikalismus und Eklektizis 
mus, Lenin dagegen sah vor sich den zerfetzten Arbeiter, der 
Unerhörtes, nie Dagewesenes erlebt hatte, und der jetzt die Wirt 
schaft wieder aufbauen sollte. Daß man die Wirtschaft sofort 
herstellen müsse, daß man sich aufraffen müsse, daß wir das 
Recht hatten, die Arbeitermasse dazu heranzuziehen, das stand 
auch für ihn fest. Aber können wir diese Arbeitermasse etwa 
in der Weise heranziehen, daß wir tausend unserer besten Kampf 
genossen, die das Kommandieren gewöhnt sind, in die Fabriken 
schicken? Dieses Kommandieren wird der Produktion nicht 
nützen. Man muß ihnen eine Ruhepause gönnen, sie sind uner 
hört erschöpft. Und das war für Lenin das entscheidende Argu 
ment. Er sah mit seinen eigenen Augen den russischen Arbeiter, 
so wie er im Winter 1921 war, und er fühlte mit seinem ganzen 
Wesen, was möglich war und was nicht. 
In der Einleitung zur „Kritik der politischen Oekonomie" 
sagt Marx, daß die Geschichte nur lösbare Aufgaben stelle. Das 
bedeutet mit anderen Worten, daß nur der die Geschichte voran 
treibt, der begreift, welche Aufgaben im gegebenen historischen 
Augenblick gelöst werden können, und der nicht um das Wün-
	        
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