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9. Tanger und Björkö
Durch das französisch-englische Abkommen trat ganz plötzlich
ein Land in den Mittelpunkt der internationalen Politik, das bisher nur
wenig beachtet worden war, Marokko. Es wurde zu einem neuen
Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich neben Elsaß-Loth
ringen. An der Marokkofrage entzündete sich die alte, wie es vielen
schien, allmählich erlöschende Feindschaft neu. Wie ist das möglich
gewesen?
Im Frühling 1904 stellte sich die Lage folgendermaßen dar: Ruß
land war in einen schweren ostasiatischen Krieg verwickelt, in dem es
bereits mehrere Niederlagen erlitten hatte. Frankreich und England
waren übereingekommen, sich nicht einzumischen und hatten alle ihre
Streitpunkte ausgeglichen. Deutschland hatte ebenfalls erklärt, neutral
bleiben zu wollen. Abgesehen davon, daß Deutschland seine vorteilhafte
Mittelstellung eingebüßt hatte, lag die wesentliche Veränderung gegen
früher darin, daß Rußlands Niederlagen seinen Einfluß im nahen Orient
zu beeinträchtigen, ihm wenigstens ein aktives Eingreifen dort zu er
schweren geeignet waren. Sollte Österreich nicht versuchen, die Gunst
dieses Augenblicks zu benutzen, um eine Lösung dieser Fragen in
seinem Sinne herbeizuführen?
Man befürchtete dies anfangs an vielen Stellen. Schon im Februar
verbreitete sich das Gerücht von österreichischen Rüstungen und Trup
penverschiebungen in der Richtung auf Mitrowitza. Namentlich Italien
war sehr mißtrauisch. Indessen gab Graf Goluchowski die bündigsten
Versicherungen, daß daran nichts Wahres sei; er werde vielleicht die
Besatzungen in Sandschak Novibazar verstärken, wozu er berechtigt
war, aber auch das sei nicht gewiß. Der österreichische Botschafter
in Berlin sagte ganz offen, Österreichs Selbstbewußtsein sei viel zu
gering, um ein solches Abenteuer zu wagen. Man werde nur zwei
Dinge nicht dulden: eine Vergrößerung Serbiens und eine Besetzung
Albaniens durch die Italiener. Bei einer Zusammenkunft mit dem italieni
schen Minister Tittoni in Abbazzia Mitte April 1904 betonte Graf
Goluchowski, Österreich erstrebe keine Gebietsvergrößerung; sollte