Neue Verhandlungen mit England
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sches, hinhaltendes Manöver war. Möglich ist immerhin, daß Stolypin,
der für die Durchführung seiner großen Agrarreform noch lange Frieden
brauchte, ernstlich für die Herstellung guter Beziehungen zu Deutsch
land eintrat. Nach außen hin wirkten diese Zusammenkünfte jedenfalls
als ein weiteres Zeichen der Entspannung der Lage. Von London und
Paris her machte man den russischen Freunden sogar Vorwürfe, daß
sie den Deutschen zu weit entgegengekommen seien.
Um noch weiter in dieser Richtung zu wirken, brachte Herr v. Beth-
mann im Herbst 1910 noch einmal die Verhandlungen mit England über
ein Flottenabkommen und ein politisches Agreement in Gang. England
hatte am 14. August im Anschluß an die vor mehreren Monaten unter
brochenen Verhandlungen in Berlin ein Memorandum übergeben, das
eine Änderung des Tempos im deutschen Flottenbau ohne Änderung
des gesetzlich festgelegten Planes nicht für sehr erheblich erklärte. Ein
Agreement sei sehr schwierig, wünschenswert erscheine aber eine
deutsche Erklärung, daß man keine neuen Vermehrungen fordern
wolle, und daneben die Einrichtung des Nachrichtenaustausches durch
die Attaches, weil man dadurch die öffentliche Meinung Englands zu
beeinflussen hoffen könne. Der Kaiser meinte dazu, mindestens müsse
sich dann England ebenfalls auf ein bestimmtes Bauprogramm festlegen.
Auch müßten wir die Aufnahme in Englands Ententen mit Frankreich
und Rußland fordern, deren Inhalt uns vorher mitzuteilen sei. (Es gab
aber gar keine förmlichen Verträge dieser Art.) Endlich müßten Verein
barungen über eine parallele Politik in der Welt, z. B. bezüglich der
Frage der offenen Tür, getroffen werden. Verlange England die Ga
rantie seines indischen Besitzes, so müßten wir die Garantie Elsaß-
Lothringens und die Verpflichtung zur Rückendeckung für uns fordern.
Bezüglich des ersteren Punktes präzisierte Tirpitz die deutsche Forde
rung dahin, daß England sich verpflichten müsse, von 1912 bis 1917
nicht mehr als drei Schiffe jährlich zu bauen, wenn Deutschland nur
zwei baue. Überschreite es diese Zahl, SO' sei auch Deutscland wieder
frei 66 ).
Bethmann gestand in seiner Antwort vom 13. Oktober die gegen
seitige Kontrolle durch die Attaches zu, erklärte aber im Einverständnis
mit dem Kaiser ein politisches Abkommen nochmals für die Voraussetzung
jeder Flottenverständigung. Er beklagte sich sehr über Englands un
freundliche Haltung in Marokko, Persien, der Frage der Bagdadbahn,
der türkischen Schuld; sogar die englischen Vertreter im Auslande
hielten sich von den deutschen geflissentlich fern. Nur wegen dieser
feindlichen Stellung der englischen Regierung zu uns sei die öffent
liche Meinung Englands gegen unsere Flottenpläne so mißtrauisch
geworden. Ferner bezweifle man drüben die Richtigkeit unserer tat-
6e ) Bemerkungen des Kaisers und des Admirals Tirpitz zu dem eng
lischen Memorandum vom 14. August 1910. Noch skeptischer der Kaiser an
Bethmann, 30. September.