Kiderlen und Cambon in Kissingen
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eine Etappenkette bis zum Meere werde die Verbindung mit der Haupt
stadt dauernd sichern 9 ). Mitte Juni ließ Cambon dem Reichskanzler
gegenüber zuerst eine offizielle Andeutung über den Kongo fallen 10 * ).
Jetzt hielt Kiderlen die Zeit zur Klärung der Situation und eventuell
zum Handeln für gekommen. Er traf zunächst mit Cambon in Kissingen
zu einer vertraulichen Besprechung zusammen. Beide wurden hier im
Prinzip darüber einig, daß die Kompensation für Deutschland am
Kongo zu suchen sein werde. Kiderlen sagte: „Es muß aber ein
tüchtiger Happen sein.“ Cambon nickte verständnisvoll, was ihn natür
lich zu nichts verpflichtete, und reiste sofort nach Paris, um von seiner
Regierung die nötigen Vollmachten zu erbitten. Bis dahin verlief alles
in größter Ruhe. Deutschland lieh den erregten Spaniern, die sofort
Truppen in ihre Einflußsphäre schickten, um nicht ganz von Frankreich
beiseite gedrängt zu werden, keine Unterstützung.
Wenn die deutschen Vertreter in Paris sich mit des Kanzlers Billi
gung allen französischen Andeutungen gegenüber schweigend verhielten,
wenn auch dieser selbst Cambon keine bestimmten Forderungen stellte,
so geschah dies deshalb, weil man die Franzosen das erste Angebot
machen lassen wollte. Für den Fall, daß dies nicht geschehen sollte,
hielt man an dem früheren Aktionsplan fest. Schon vor Kiderlens
Gesprächen mit Cambon entwickelte der Unterstaatssekretär Zimmer
mann von neuem den Gedanken des Faustpfandes. Auf keinen Fall
dürfe die Sache so enden, daß Frankreich uns nur wirtschaftliche Kom
pensationen oder kleine Grenzberichtigungen anbiete, und, wenn wir
dies ablehnten, achselzuckend die Verhandlungen fallen lasse. Das
werde eine ungeheuere Niederlage der deutschen Politik bedeuten.
Ganz plötzlich müßten vier deutsche Kriegsschiffe in Agadir und Moga-
dor erscheinen und gleichzeitig müsse erklärt werden, daß die Algesiras-
Akte erledigt sei; sie habe auf der schon vor fünf Jahren unrichtigen
Fiktion beruht, die jetzt definitiv zerstört sei, als sei Marokko ein ein
heitlicher Staat und der Sultan dessen unabhängiger Beherrscher. Alle
Signatarmächte hätten daher ihre volle Handlungsfreiheit zurückerlangt,
und Deutschland müsse sich weitere Maßnahmen Vorbehalten. Nur auf
diese Art werde Frankreich zu ernsthaften und ausreichenden Kompen
sationsvorschlägen zu bringen sein. Unsere Entschlossenheit, meinte
er, werde beruhigend wirken, und auch die französischen Chauvinisten
würden ruhig bleiben, wenn unsere Presse Verständnis für die fran
zösischen Maßregeln zeige 12 ).
Offenbar hatte Kiderlen vor entscheidenden Schritten noch ab-
warten wollen, ob Cambon bestimmte Anerbietungen aus Paris mit
bringen werde. Als der Botschafter aber nach seiner Rückkehr mehrere
9 ) Schön, 10. Juni.
10 ) Schön, 15. Juni. Bethmann an Schön, 16. Juni.
u ) Jenisch an den Reichskanzler, 13. August 1911.
12 ) Denkschrift Zimmermaniis, 12. Juni.