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Haltung der übrigen Mächte
Indessen gingen die Ereignisse ihren Gang. Die Türkei bot durch
deutsche Vermittlung weitgehende wirtschaftliche Zugeständnisse in
Tripolis an, wenn Italien auf Gewaltmaßnahmen verachtete. In Rom
erklärte man, es sei zu spät, die öffentliche Meinung verlange energisches
Handeln. Am 28. September erfolgte Italiens Ultimatum an die Türkei,
am folgenden Tage die Ablehnung und die Kriegserklärung. Am 5. Ok
tober wurde die Stadt Tripolis besetzt, in den folgenden Wochen die
wichtigsten Küstenplätze.
Gleich nach Beginn des Krieges bot die italienische Regierung'durch
Vermittlung Deutschlands dem Sultan an, sie wolle seine formelle
Oberhoheit anerkennen, wenn er ihr die Verwaltung von Tripolis über
lasse, etwa in der Art, wie dies bei Bosnien gegenüber Österreich ge
schehen sei. Die Pforte wollte jedoch höchstens in eine provisorische
Besetzung oder einen Pachtvertrag willigen, was den Italienern nicht
genügte 40 ). Sobald aber die Stadt Tripolis besetzt war, verfiel Italien
in einen Siegesrausch; es erschien jetzt der Regierung nicht mehr mög
lich, auch nur eine formelle Oberhoheit des Sultans bestehen zu lassen 41 ).
Da die Türken durchaus in keine volle Abtretung willigen wollten,
auch wenn die geistlichen Rechte des Sultans als Kalifen ausdrück
lich garantiert würden, blieben alle Vermittlungsversuche nutzlos. Die '
Hilferufe der mitten im Frieden ohne jeden plausiblen Grund über
fallenen Türkei verhallten bei den Großmächten ungehört. Rußland
hätte gern mit England und Frankreich zusammen vermittelt, stieß
aber bei den Westmächten auf Ablehnung. Die Türken kamen zeitweise
auf den verzweifelten Gedanken, sich England ganz in die Arme zu
werfen, das ihnen am ungünstigsten gesinnt war, erhielten aber nur die
kühle Antwort, daß man über gar nichts reden könne, solange die
Türkei nicht ihre Beziehungen zu Deutschland gelöst habe und in der
Frage der Bagdadbahn den englischen Wünschen entgegenkomme 42 ).
Rußland hielt diesen Augenblick für günstig, um die 1908 vertagte
Meerengenfrage wieder aufzuwerfen 43 ). Es ließ im Oktober dem Sultan
vertraulich ein Abkommen anbieten, wonach er den russischen Kriegs
schiffen freie Durchfahrt durch die Meerengen gestatten sollte, wohin
gegen Rußland versprechen wollte, die Balkanstaaten von jedem An
griff auf die Türkei abzuhalten und sogar dem Sultan den Besitz von
Konstantinopel und dem umliegenden Gebiet dauernd zu garantieren.
Man fand nur in Paris mit diesen Plänen laue Zustimmung, in London
stieß man auf starke Bedenken; G re y hielt den Zeitpunkt für ungeeignet
und meinte, auch sachlich müsse das russische Verlangen erst genau auf
seine Vereinbarkeit mit den bestehenden Verträgen hin geprüft werden.
40 ) Marschall, 25. September. Kiderlen an Jagovv, 27. September. Jagow
an das Auswärtige Amt, 2., 3. und 9. Oktober.
41 ) Jagow, 9. Oktober. Marschall, 15. Oktober.
42 ) Marschall, 31. Oktober.
43 ) S. Siebe rt 674 f. Livre noir 1, 140 ff.