Lage im Frühjahr 1912
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nieti in den Hauptvertrag, zulassen. Er gab sogar zu erkennen, daß er
einzelne der bisherigen Bestimmungen als unvorteilhaft für Österreich,,
den ganzen Dreibund als „fragwürdig“ betrachte.
Kaiser Wilhelm, der im März 1912 auf der Durchreise nach Italien
in Wien weilte, suchte ihm vergeblich klar zu machen, daß König Viktor
Emanuel eigentlich gegen seinen Willen durch die Volksstimmung in
den Krieg gegen die Türkei hineingerissen worden sei, und daß einige
kleine Zwischenfälle im Seekrieg, die zu Reibungen mit Frankreich
geführt hatten, ihn zu engerem Anschluß an den Dreibund für die Zu
kunft treiben würden. Außerdem werde der Kampf um Tripolis Italien
vom Balkan und der Adria ablenken. Berchtold blieb diesen Ausfüh
rungen gegenüber skeptisch. Auf Kiderlens Drängen, man möge den
Italienern freie Hand gegen die Dardanellen und die kleinasiatischen
Inseln lassen, damit sie in schnelle Erneuerung des Dreibundes willigten,
verhielt Graf Berchtold sich ablehnend. Er ließ die italienische Regierung
nochmals energisch auf ihre Verpflichtungen gegen Österreich und auf
die möglichen schweren Folgen einer Ausdehnung des Kampfes auf die
Küsten des Ägäischen Meeres hinweisen. Vergebens machte Kiderlenauf
die Wichtigkeit der Haltung Italiens im Falle eines Krieges mit Ruß
land und Frankreich aufmerksam. Berchtold fürchtete ein sofortiges
Losbrechen Bulgariens und Aufrollung aller Balkanfragen, sobald die
Italiener eine Insel in der Nähe der Dardanellen besetzten.
Deutschland konnte gegenüber dem italienisch-türkischen Kriege
nur eine Politik des Abwartens und der Ausgleichung befolgen. Den Ge
gensatz zwischen Italien und Österreich nicht hervorbrechen zu lassen,
in der Türkei keine feindselige Stimmung gegen Deutschland und Öster
reich als die Verbündeten Italiens aufkommen zu lassen, das waren die
sehr schwierigen Aufgaben, die, soweit es möglich war, befriedigend
gelöst wurden.
Für die allgemeine politische Lage war die wesentlichste und
schwerste Folge des Krieges, daß die Balkanstaaten durch die schwie
rige Lage der Türkei zum Losschlagen gegen sie ermutigt wurden, um
bei dieser Gelegenheit ihre alten Ziele zu erreichen. Freilich bedurfte
es dazu einer vorherigen Verständigung unter ihnen selbst, die nicht
leicht war. Dadurch verzögerte sich ihr Angriff bis in den Herbst 1912.
Während der schwülen und gefahrdrohenden Lage im Frühling und
Sommer wurde nun noch einmal ein Versuch gemacht, zwischen
Deutschland und England nähere Fühlung herzustellen, der, wenn er
ganz gelungen wäre, den Dingen vielleicht noch eine andere Wendung
hätte geben können.