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Bedeutung dieser Vorgänge
auch ein noch' so lose gefaßtes Abkommen sehr unangenehm gewesen
wäre. Übrigens hat Grey am 15. März die von ihm vorgeschlagene Formel
den Russen, und also wohl auch den Franzosen, mitgeteilt, damit ihr Miß
trauen nicht noch bedenklichere Dinge hinter den Verhandlungen suche.
Poincare hat, wie er wenigstens Iswolski versicherte, darauf erklärt,
„daß die englische Unterschrift unter einen derartigen Vertrag mit
Deutschland den derzeitigen englisch-französischen Beziehungen sofort
ein Ende bereiten würde“ 35 ).
Das Scheitern dieser Verhandlungen ist, soviel man bisher urteilen
kann, insofern von Bedeutung gewesen, als man in England nun defi
nitiv zu der Überzeugung kam, daß es nicht möglich sei, eine vertrags
mäßige Einschränkung der deutschen Flottenrüstung zu erreichen. Man
hatte 1908 denselben Versuch gemacht und war auf dieselben Schwierig
keiten gestoßen. Man mußte damit rechnen, daß in absehbarer Zeit
wieder neue Verstärkungen von Deutschland vorgenommen werden
würden und daß man dann immer wieder in dieselbe Lage kommen
werde, entweder dem eigenen Volke höchst unerwünschte Steuerlasten
aufbürden oder in eine Verhandlung mit Deutschland eintreten zu
müssen, bei der koloniale Konzessionen und politische Verpflichtungen
allgemeiner Art in einem Umfange, der bedenklich erschien, als Gegen
leistung verlangt werden würden. Ja diesmal waren sie nicht einmal als
Gegenleistung für den Verzicht auf die ganze Novelle, sondern lediglich
für eine Verlangsamung des Tempos verlangt worden. Ein Zeichen
dieser Stimmung war die Zunahme von Äußerungen in der Öffentlichkeit,
die eine gewaltsame Vernichtung der deutschen Flotte als wünschens
wert bezeichneten, sei es, daß sie dafür eintraten, einen Krieg zu diesem
Zwecke zu beginnen, oder ihn wenigstens als nicht unerwünscht zu
akzeptieren, wenn ein Konflikt Deutschlands mit einer der England
befreundeten Mächte den Anlaß dazu biete.
Unmittelbar nach dem Scheitern der Verhandlungen trat Graf Met
ternich in den Ruhestand. Er galt dem Kaiser längst als zu england
freundlich und war selbst mit der Politik seiner Regierung, die er für
verfehlt hielt, seit lange unzufrieden. In England bedauerte man seinen
Abgang sehr. Grey ließ ihm die ganz außergewöhnliche Ehre zu teil
werden, daß er ihm im Unterhause bedauernde Abschiedsworte widmete.
Sein Nachfolger wurde der bereits 70jährige Freiherr von Marschäll, der
als der bedeutendste unter den deutschen Diplomaten galt. Er wurde
so zum dritten Male dazu ausersehen, eine bedeutende Rolle in der deut
schen Politik zu spielen. Als Staatssekretär hatte er von 1890—97 die
Annäherung an England und die darauf folgende feindselige Verstim
mung mit erlebt, und hatte in den letzten dieser Jahre eine England
nicht gerade freundliche Richtung vertreten. Dann hatte er als Bot
schafter in Konstantinopel von 1897—1912 die ganze türkenfreund-
35 ) Bericht Iswolskis, 5. Dezember 1912. Livre Noir 1, 362 f.