Sassonows Informationsreise
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halten werde, Österreich an einseitigem Vorgehen zu hindern. Inr
übrigen fand er in England und Frankreich geringe Neigung, gegen die
Türkei irgendetwas zu unternehmen aus Rücksicht auf die Stimmung
der vielen Mohammedaner in den eigenen Gebieten. Namentlich auf
englische Unterstützung, meinte er, sei nicht zu rechnen, wenn weitere
Ereignisse einen energischen Druck auf die Pforte nötig machen sollten.
Nebenbei benutzte er seinen Aufenthalt in London noch, um mit
England Maßregeln zur Fernhaltung des deutschen Einflusses aus der
neutralen Zone Persiens zu vereinbaren. Auch in Paris gewann er den
Eindruck, daß man vor allen Dingen eine friedliche Lösung wünsche.
In Berlin sagte er Kiderlen, die Hauptgefahr erblicke er darin,
wenn Österreich gegen Serbien losschlage, sobald dieses in Novibazar
einrücke; dann werde Rußland nicht ruhig zusehen können. Öster
reich müsse bestimmt werden, vorläufig Ruhe zu halten, da ja über
das künftige Schicksal des Sandschaks erst später zu entscheiden
sein würde. Da alle Mächte den status quo erhalten wollten, so würde
Österreich später sogar als Mandatar der Mächte die Serben wieder
hinauswerfen können, wenn sie nicht freiwillig gehen wollten. Die
Besorgnisse des Staatssekretärs über eine von Rußland angeordnete
Probemobilmachung an der Ostgrenze suchte er durch den Hinweis zu
beschwichtigen, daß dies eine regelmäßig wiederkehrende Maßregel
zur Erprobung der Kriegsbereitschaft des Heeres ohne offensive Ab
sichten sei. Man nahm seine Zusicherungen mit Mißtrauen auf. Er
selbst hatte den Eindruck, daß Deutschland nicht gern einen Druck
auf Österreich ausüben wolle, um seinen Einfluß in Wien nicht einer
zu starken Belastungsprobe zu unterwerfen, und daß Graf Berchtold
die Furcht Deutschlands vor völliger Isolierung benutze, um eine
selbständige Politik zu treiben. In der Tat trug Kiderlen Bedenken,
in Wien ungefragt Ratschläge zu erteilen. „Wir würden dann höchstens
für versäumte Gelegenheiten verantwortlich gemacht werden 8 ).“
Die Ententemächte waren zunächst darüber einig geworden, daß
selbst im Falle eines Krieges der augenblickliche Besitzstand möglichst
erhalten werden solle. Da auch die Dreibundmächte hiermit einver
standen waren, schien sich bei Innehaltung dieser Basis jeder inter
nationale Konflikt vermeiden zu lassen. Rußland und Österreich erhielten
auf Poincares Anregung den Auftrag, im Namen der Mächte den Bal
kanstaaten zu erklären, daß die Mächte auch nach einem Kriege keine
Veränderung im Besitzstand der europäischen Türkei zulassen würden.
Der Kaiser stand diesem Programm von Anfang an mit Recht sehr
skeptisch gegenüber. Er glaubte nicht, daß von der europäischen Türkei
noch viel zu retten sei; er verbot sogar dem deutschen Botschafter,
irgendwelche Ratschläge in Konstantinopel zu erteilen. Er hielt es
sowohl für ungerecht wie für unklug, den Balkanstaaten, falls sie
8 ) Aufzeichnung Kiderlens, 9. Oktober.