Haltung der Großmächte
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sonst auf Rußlands Widerstand stoßen und alles bisher Erreichte ge
fährden würden.
Die Ententemächte kamen schließlich überein, daß man auf
Erhaltung der türkischen Herrschaft in Konstantinopel und Umgegend
bestehen, jedoch die Aufteilung Mazedoniens unter die Balkanmächte
zulassen wolle. Selbst Adrianopel wollte Rußland schließlich’, wiewohl
ungern, den Bulgaren überlassen. Volle Einigung wurde freilich über
die Zukunft der Meerengen nicht erreicht. Qrey war geneigt, den alten
englischen Wunsch nach ihrer vollständigen Neutralisierung jetzt zur
Geltung zu bringen und diese Regelung sogar auf Saloniki auszudehnen.
Poincare sah dies mit großer Besorgnis, da er das Widerstreben Ruß
lands dagegen kannte und eine Lockerung der Entente davon
befürchtete 12a ).
In Wien konnte man sich ebenfalls nicht verhehlen, daß der alte
Zustand nicht wieder herzustellen sei. Es kam zu heftigen Ausein
andersetzungen im Ministerrat. Graf Berchtold wollte auch jetzt noch 1
jede Vergrößerung Serbiens mit Gewalt verhindern. Der Ministerpräsi
dent Graf Stürckh brachte ihn nur mit großer Mühe zum Nachgeben.
Es wurde zuletzt beschlossen, sich mit den vollendeten Tatsachen abzu
finden. Man erwog auch, ob es nicht möglich sein werde, sich mit dem
vergrößerten Serbien auf Grund eines Zoll- und Handelsbündnisses
gütlich zu einigen. Am 1. November ließ Berchtold in Berlin mit-
teilen, unter welchen Bedingungen er den Gebietszuwachs der Balkan
staaten anerkennen wolle. Serbien müsse Garantien geben, daß es
keine der Monarchie feindliche Politik treiben, nie in die Reihe ihrer
Gegner treten werde. Es müsse ferner auf das Vordringen zur Adria
verzichten und in die Begründung eines selbständigen albanischen Staates
willigen. Bulgarien müsse den berechtigten Wünschen Rumäniens Rech
nung tragen. Endlich müßten Österreichs wirtschaftliche Interessen,
etwa durch die Erklärung Salonikis zum Freihafen, gewahrt werden * 13 ).
Kiderlen fand dies Programm „sehr verständig“, da es indirekt den
Verzicht auf den Sandschäk enthielt. Der Kaiser war skeptischer. Er
hielt nicht viel von der Lebensfähigkeit eines albanischen „Räuber
staates“ und meinte, die Anforderungen an Serbien würden wohl nur
im Rahmen eines Bündnisses zu erfüllen sein. Dabei werde aber die
Zugehörigkeit Serbiens zum Balkanbund erschwerend wirken. Er hielt
es für besser, auf Entstehung und Festigung der „Vereinigten Staaten“
des Balkan und deren Bündnis mit der Türkei nach erfolgtem Friedens
schluß hinzuwirken. Diese würden von selbst in Gegensatz zu Rußland
geraten und auf Österreich angewiesen sein 14 ).
12a ) Iswolski, 6. November. Livre Noir 1, 339.
13 ) Tschirschky, 26. Oktober und 9. November. Aufzeichnung Kiderlens
über eine Mitteilung Szögenyis, 1. November.
14 ) Kiderlen an Bethmann, 1. November. Immediatbericht, 3. November,
mit Randbemerkungen des Kaisers.