Streit uni den serbischen Adriahafen
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Anfang November rief die geschlagene Türkei die Vermittlung der
Mächte an. Der Kaiser war durchaus gegen eine Beteiligung Deutsch
lands an einem solchen Schritte. Er schrieb dem Auswärtigen Amt:
„Ich verbiete jede Aktion mitzumachen, die irgendwie seitens des Vier
bundes als Absicht, ihm in den Arm zu fallen, ausgelegt werden könnte,
selbst auf die Gefahr hin, mehrere Mächte des Konzerts zu verschnup-
fen 15 ).“ Da aber die übrigen Mächte zum Vermitteln geneigter waren,
konnte Deutschland sich doch nicht ganz ausschließen.
Darüber waren freilich alle einig, daß vor dem Zusammentritt einer
Konferenz, wie sie von französischer Seite von neuem angeregt wurde,
die Mächte über ihre Forderungen Übereinsümmung erzielt haben
müßten. Grey schlug vor, er wolle Rußlands Minimalprogramm er
mitteln, Deutschland möge in Wien dasselbe tun.
Es zeigte sich alsbald, daß nach Österreichs Verzicht auf den Sand-
schak nur ein ernster Streitpunkt übrig blieb, ob nämlich Serbien einen
Streifen nordalbanischen Landes und einen Hafen an der Adria be
kommen solle. Es war dabei an San Giovanni di Medua gedacht. Im
österreichischen Ministerium gab es eine Partei, die Serbien gegen
weitgehende wirtschaftliche Zugeständnisse einen Adriahafen überlassen
wollte, weil auf andere Art ein dauernder Friede an der Südgrenze
nicht zu haben sei. Graf Berchtold aber, diesmal mit den Italienern
einig, erklärte das unter keinen Umständen zugeben zu können; jede
Nachgiebigkeit werde in Serbien nur als Schwäche gedeutet werden;
Österreich werde in Abhängigkeit von den Serben und ihren süd
slawischen Stammesgenossen geraten 16 ). Diesmal blieb er Sieger.
Österreich erklärte den Mächten, daß es unter keinen Umständen die
Abtretung eines Adriahafens an Serbien zugeben werde (24. November).
Dagegen bestand Rußland auf dieser Forderung im Interesse Serbiens.
Auch kümmerten sich die Serben gar nicht um Österreichs Einspruch,
sondern drangen in Albanien ein und besetzten sogar Durazzo. Kiderlen
meinte, man könne vielleicht Rußland die Unterstützung des Dreibundes
gegen die Einverleibung Konstantinopels in das bulgarische Gebiet
anbieten, und dafür vom Zaren verlangen, daß er auf weitere Unterstüt
zung des serbischen Anspruchs verzichte. Aber Nikolaus sprach sich
dem Prinzen Heinrich gegenüber dahin aus, daß es ihm gleichgültig
sei, ob die Bulgaren Konstantinopel bekämen, er selbst werde es nicht
einmal geschenkt nehmen 17 ). Offenbar sollte damit nur der Wert einer
solchen Unterstützung als Kompensationsobjekt herabgesetzt werden.
Der Kaiser war auch in dieser Frage anderer Ansicht wie seine
Ratgeber. Er sah nicht ein, warum Österreich den Serben nicht ihren
15 ) Der Kaiser an das Auswärtige Amt, 4. November.
16 ) Tschirschky, 9., 13., 18. November.
17 ) Kiderlen an Tschirschky, 5. November. Der Kaiser an das Auswärtige
Amt, 6. und 7. November.