Ziellosigkeit der österreichischen Politik
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lichkeit behalten, die Lunte an das südslawiche Pulverfaß zu legen,
sobald es ihm beliebe. Auch die übrigen wiener Diplomaten und Ge
neräle wußten keinen praktischen Ausweg. Ratlos stand man einem
unlösbaren Problem gegenüber 28 ).
Und für diese ziellose österreichische Politik sollte Deutschland
unter Umständen mit Einsatz seiner Existenz kämpfen! Gegen Mitte
Dezember befahl der Kaiser, die öffentliche Meinung über die Bedeu
tung dieser Fragen — die er selbst noch vor wenigen Wochen ganz
anders beurteilt hatte —, aufzuklären. Sonst werde, wenn es zum
Kriege komme, niemand wissen, „für welche Interessen Deutschland
in diesem Kriege zu kämpfen habe“ 29 ).
In Wien schien einen Augenblick die kriegerische Stimmung obzu
siegen. Am 7. Dezember wurde plötzlich Conrad v. Hötzendorf, das alte
Haupt der Kriegspartei, auf Veranlassung des Thronfolgers wieder zum
Chef des Generalstabes ernannt. Er äußerte offen seine Ansicht, da
hin, daß jetzt die letzte Gelegenheit sei, die vor drei Jahren versäumte
Abrechnung mit Serbien vorzunehmen. Rußland sei nicht zum Kampfe
gerüstet. Verlaufe aber die Sache wieder im Sande, so sei Österreich
durch die Kosten der dauernden Kriegsbereitschaft finanziell erschöpft,
das Prestige des Dreibundes geschwächt, und der Streit werde ausge
tragen werden, wenn es der Entente passe. Aber auch die Kriegspartei
wußte ja nicht, was eigentlich mit Serbien anzufangen sei, wenn man
es besiegt habe. Von dem deutschen Militärattache befragt, ob der
Thronfolger zum Kriege entschlossen sei, zuckte General Conrad die
Achseln. Er wußte nicht einmal das, und war doch von ihm eigens
wieder herbeigerufen worden. Dem deutschen Militär-Attache sagte
der Erzherzog persönlich, ein Krieg gegen Rußland sei „überhaupt
ein Unding“, da kein Grund dazu vorläge und kein Siegespreis bestehe,
der eines solchen Einsatzes wert sei. Auch' gegen Serbien gewaltsam
vorzugehen, sehe er keinen Grund und sei stets Gegner einer Politik
gewesen, die zu solchen Konflikten führen könne. Die innerpolitischen
Probleme seien nach seiner Ansicht für die Monarchie dringender als
die außenpolitischen 30 ).
Aber es kam nicht zu einem kriegerischen Zusammenstoß, da Ruß
land sich entschloß, die serbische Forderung nicht bis zum Äußersten
zu unterstützen, sondern sich mit einer Eisenbahn von Serbien nach einem
für neutral zu erklärenden albanischen Hafenplatz zu begnügen, was
Österreich zuzugestehen bereit war.
Aus den bisher bekannt gewordenen russischen Aktenstücken er
sieht man mit Erstaunen, daß Rußland diesen Entschluß bereits im
2S ) Kiderlen an Tschirschky, 3. Dezember. Österreichische Minimalforde
rungen, 4. Dezember. Tschirschky, 6. Dezember.
29 ) v. Müller an Bethmann, 12. Dezember.
30 ) Militärattache v. Kageneck, 17. Dezember 1912 und 26. Februar 1913.
— Vgl. Conrad, Aus meiner Dienstzeit 2, 376 f. und 412 f.