Zukunft der asiatischen Türkei
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fei 1 ). Die Türkei hatte sich noch 1 durchaus nicht mit dem Verlust ihrer
europäischen Gebiete abgefunden.
Auch Rußland konnte nicht ganz zufrieden sein. Zwar hatte es
seinen Schützlingen das Gefühl gegeben, nur mit des Zaren Hilfe sei
für sie etwas zu gewinnen, und nur die dereinstige Aufteilung Öster
reich-Ungarns werde eine Lösung ermöglichen, die alle Teile zufrieden
stelle; aber diese Schützlinge selbst haßten sich untereinander; und
schon regten sich Stimmen, die da meinten, mit der Befreiung der
Balkanstaaten sei Rußlands Mission erfüllt; es müsse nun ihnen selbst
die Bestimmung ihrer Geschicke überlassen. Bulgarien und Griechen
land hatten bereits beim Dreibund eine Stütze gegen Rußland gesucht.
Zunächst erschien es als die wichtigste Frage, ob die Türkei in
ihrer neuen Begrenzung wirklich lebensfähig sein, oder ob der Auf
teilungsprozeß auch ihre asiatischen Besitzungen ergreifen werde.,' Heer,
Beamtentum, Finanzen waren in voller Auflösung begriffen. Arabien
stand nur in loser Abhängigkeit vom Sultan, seine Bewohner standen
den Türken innerlich fremd gegenüber. Die Westküste Kleinasiens
war teilweise von Griechen bewohnt, das südliche Mesopotamien wurde
von fast unabhängigen Scheichs regiert; die armenischen Bevölkerungs
teile strebten mit aller Kraft aus dem verhaßten Verbände des otto-
manischen Reiches heraus; Syrien war ebenfalls der Bevölkerung und
Gesinnung nach ein Land von besonderer Eigenart, das stark unter
französischem Einfluß stand und wenig Anhänglichkeit an die Sultans
herrschaft besaß. Brach 1 irgendwo eine separatistische Bewegung los,
so waren die Folgen unberechenbar.
In Berlin fürchtete man, daß diese Zersetzungsbewegung nicht auf
zuhalten sein werde, so wenig man sie wünschte. Was würde die
Folge für Deutschland und seine kleinasiatischen Interessen, insbeson
dere die Bagdadbahn sein, wenn sich die Mächte der Entente etwa
auf der Basis einigten: Ägypten und Mesopotamien für England, Syrien
für Frankreich, die Nordküste Kleinasiens und Konstantinopel für
Rußland, die ägäische Küste für Griechenland? Dann blieb vielleicht
noch irgendwo im Innern Kleinasiens ein schwacher und bedeutungs
loser Überrest des Türkenreiches bestehen, vielleicht nicht einmal das.
Deutschland aber würde völlig ausgeschaltet sein, wie in Marokko,
wie in Persien, trotz aller hier geleisteten Kulturarbeit. Konnte man
es dazu kommen lassen?
Schon im Frühling 1913 war die Meinung verbreitet, der Sultan
werde, um seinen asiatischen Besitz zu behaupten, den Schutz Eng
lands auf Grund des Zypernvertrages von 1878 anrufen. England
werde ihn gewähren, Geld und Beamte hinschicken und sich überall
materielle Interessen schaffen, so daß schließlich die asiatische Türkei
J ) Denkschrift für die bevorstehende Unterredung des Reichskanzlers mit
Sassonow, 20. Oktober 1913. Aufzeichnung über dieselbe, 22. Oktober.