406
Absichten Rußlands
während der Balkankrise 1912/13 war die panslavistische Strö
mung- in Rußland so stark angeschwollen, daß auch Pourtales
meinte, wenn Österreich in Serbien einmarschiere, werde der Zar
wohl losschlagen müssen. „Die Frage, ob ein solcher Krieg wirklich
dem russischen Interesse dienen würde, wird in diesem Falle ebenso
wenig erwogen werden, wie die Rücksicht auf die Gefahren, denen
Rußland bei einem Kriege im Innern des Reiches zweifellos entgegen
gehen würde 20 ).“ Im Frühling 1914 bezweifelte er zwar, daß Rußland
planmäßig auf einen Krieg hinarbeite, da die Persönlichkeiten zur
Leitung einer großen, einheitlichen Aktion fehlten; aber er gestand zu,
daß der schwache Zar jeden Augenblick von den Panslavisten mit
gerissen werden könne. Auch ein damals in einem russischen offiziösen
Blatte erscheinender Artikel — Rußland sei kriegsbereit, Frankreich
möge es auch sein —, machte ihn in dieser Ansicht nicht irre. Aber
der Kaiser war anderer Meinung. Er fand, daß Pourtales Bericht
sich selbst widerspreche. „Ich als Militär“, schrieb er, „trage nach
allen meinen Nachrichten nicht den geringsten Zweifel, daß Rußland
den Krieg systematisch gegen uns vorbereitet, und danach führe ich
meine Politik.“ Zu einer Bemerkung des Botschafters, daß niemand
drei bis vier Jahre in die Zukunft schauen könne, setzte er die charak
teristische Note: „Die Gabe kommt vor! Bei Souveränen öfter, bei
Staatsmännern selten, bei Diplomaten fast nie 21 )!“ Er glaubte sie
offenbar zu besitzen; hätte 6r doch nur ein wenig davon gehabt!
Der Reichskanzler war zwar ebenfalls besorgt über den Ton der rus
sischen Presse und meinte: „daß Rußland noch am ehesten von allen
europäischen Großmächten geneigt sein wird, das Risiko eines kriege
rischen Abenteuers zu tragen.“ Aber an unmittelbare Kriegsabsichten
glaubte er noch im Juni 1914 nicht, wenn er auch überzeugt war, daß ein
beliebiger, vielleicht ganz untergeordneter Interessengegensatz zwischen
Rußland und Österreich-Ungarn die Kriegsfackel entzünden könne 22 ).
Der österreichische Thronfolger zweifelte ebenfalls nicht an Rußlands
bösen Absichten, meinte aber, es sei nicht zu fürchten; „die inneren
Schwierigkeiten seien zu groß, um diesem Lande eine aggressive
Politik zu gestatten 23 )“.
Die Wahrheit dürfte, soweit man auf Grund des heute vorliegenden
Materials urteilen kann, die sein, daß die regierenden Kreise Rußlands
nicht auf jeden Fall Krieg führen wollten und daher keinen bestimmten
Zeitpunkt dafür ins Auge gefaßt hatten, daß sie aber den Krieg inner
halb einer nicht allzu langen Zeitspanne für unvermeidlich hielten. Maß
gebend für diese Überzeugung war nicht so sehr der Deutschenhaß
20 ) Pourtales, 6. Februar 1913.
21 ) Pourtales an Jagow, 6., 11., 16. März 1914. Bemerkungen des
Kaisers zum Bericht vom 11. März.
22 ) Bethmann an Lichnowsky, 16. Juni.
23 ) Aufzeichnung Treutiers über die Zusammenkunft in Konopischt, 15. Juni.