Deutsche Politik-
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weiter Volkskreise, auch nicht der Glaube, daß Deutschland den Russen
den Weg nach Konstantinopel versperren wolle — was ja übrigens durch
aus nicht der Fall war — sondern die Erwartung, daß) der österreichische
Nationalitätenstaat beim Tode des alten Kaisers Franz Josef ausein
anderfallen werde. Diese Meinung teilte man, wie wir wissen, seit
langem in London, wahrscheinlich auch in Paris und Rom; ja sogar
in Deutschland war sie weit verbreitet. Man glaubte also, der Tod
dieses bereits 84 jährigen Herrschers werde das Signal zur Neu
gestaltung der staatlichen Verhältnisse des Donaubeckens und der
nordwestlichen Teile der Balkanhalbinsel werden. Auf diesen Fall
bezogen sich, wie ich glaube, die den Serben so oft gegebenen Ver
sprechungen, daß sie auf Kosten der habsburgischen Monarchie „viel
Land“ erhalten sollten. Auf diesen Zeitpunkt wird man auch die
Rumänen hingewiesen haben, die Rußland bereits im Frühjahr 1914
trotz des Widerstrebens König Karls zum großen Teil gewonnen hatte.
Es kann nicht zweifelhaft sein, daß Rußlands Zukunftsprogramm die
Aufteilung der österreich-ungarischen Monarchie in sich 1 enthielt; wohl
aber kann man verschiedener Meinung darüber sein, ob Rußland deren
gewaltsame Zerstörung durch einen absichtlich herbeigeführten großen
Krieg erstrebte, oder ihren Zerfall beim Regierungswechsel erwartete,
und ihn, sobald jener Zeitpunkt gekommen sei, zu befördern und aus
zunützen, nicht aber künstlich zu beschleunigen gewillt war. Ich
glaube das letztere. Daher waren auch die friedlichen Versicherungen
Deutschland gegenüber wahrscheinlich nicht ganz unehrlich. Man hielt
die Möglichkeit nicht für ausgeschlossen, daß man sich mit Berlin beim
Auseinanderfall des Donaustaates gütlich werde verständigen können,
sobald das deutsch-österreichische Bündnis durch die Macht der Tat
sachen beseitigt sei. Verhielt sich dies so, dann kam es für Deutsch
land darauf an, vorzeitige Zusammenstöße zu vermeiden, bis sich ge
zeigt haben würde, wie sich Österreichs Schicksal nach dem Tode
des alten Kaisers gestalten werde.
Jedenfalls betrachtete man in Berlin Rußlands Absichten mit tiefem
Mißtrauen, das beim Kaiser selbst noch größer war als bei seinen
Diplomaten. Man wußte genau, daß jeder unvorhergesehene Zwischen
fall am Balkan die 1909 und 1912/13 glücklich beschworene Kriegs
gefahr erneuern könne. Auch zweifelte man nicht daran, daß Frank
reich den Russen in jedem Falle helfen werde. Eine gewisse Beruhi
gung fand man in der Überzeugung, daß Rußlands eigene Kriegsvorbe
reitungen noch nicht abgeschlossen seien.
Dagegen setzte der Reichskanzler große Hoffnungen auf die neu
befestigten Beziehungen zu England. Ob es wegen der Balkanfragen
zu einem allgemeinen Kriege kommen werde, meinte er, hänge von
Deutschland und England ab. „Treten wir beide alsdann geschlossen
als Garanten des europäischen Friedens auf, woran uns, sofern wir
von vornherein dieses Ziel nach einem gemeinsamen Plane verfolgen,