Deutsche Kriegserklärung an Rußland
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Kriegspartei in Petersburg zur äußersten Anspannung ihrer
Kräfte gedrängt zu haben, um die sofortige Gesamtmobilmachung
durchzusetzen und dadurch die Verhandlungen zu zerreißen, bevor
sie begonnen hatten. Sassonow wurde wohl durch die Furcht vor einer
schließlichen diplomatischen Niederlage, die man ihm in die Schuhe
schieben werde, gefügig gemacht; welche Argumente man zum Druck
auf den friedliebenden aber schwachen Zaren anwandte, läßt sich
bisher nur vermuten. Wir hören, daß man ihn mit der Befürchtung
geängstigt hat, längeres Zögern könne von Frankreich als Verletzung
der Bundespflichten ausgelegt werden, die pariser Regierung könne
sich im Zweifel über Rußlands Bundestreue ein Neutralitätsversprechen
von Deutschland abtrotzen lassen, und man werde dann ganz isoliert
sein. Außerdem wird man ihm wohl gesagt haben, daß sich bei einem
diplomatischen Mißerfolg die Wut des Volkes gegen die Dynastie und
seine Person richten werde; breche dann eine Revolution aus, weil
der Herrscher selbst gegen die nationalen Interessen gehandelt habe,
so werde niemand für den Ausgang einstehen können. Daß der fran
zösische Botschafter die Kriegspartei mit aller Kraft unterstützte, ver
steht sich von selbst und ist auch von ihm offen zugegeben worden.
Nachdem die russische Mobilmachung am 30. Juli 11 Uhr vor
mittags bekanntgegeben war, verlief alles weitere mit fast automa
tischer Selbstverständlichkeit. Österreich und Deutschland mußten mit
der Gesamtmobilisierung antworten. Es war schon eine Verschlech
terung der eigenen militärischen Chancen, daß Deutschland zunächst
nur den Zustand der Kriegsgefahr proklamierte und noch einmal mit
Rußland über die Zurücknahme seiner Mobilmachung verhandelte. Man
konnte kaum eine tatsächliche Wirkung davon erwarten. Der Reichs
kanzler ließ bekanntlich am 31. Juli eine auf Einstellung aller Kriegsmaß
nahmen gegen Deutschland und Österreich gerichtete Forderung in
Petersburg stellen, und nachdem innerhalb der gestellten Frist von
zwölf Stunden keine entsprechende Zusage erfolgt war, die Kriegs
erklärung an Rußland überreichen (1. August 7 Uhr abends).
Es war ein sehr auffälliger Schritt, der denn auch wiederholt
scharfen Tadel erfahren hat. Anstatt dem wirklichen Angreifer Ruß
land auch die formelle Erklärung des Kriegszustandes zu überlassen,
oder wenigstens erst abzuwarten, bis durch den Ausbruch des Krieges
zwischen Rußland und Österreich der Bündnisfall für uns gegeben sein
würde, erklärte Deutschland selbst noch vor Österreich den Krieg an
Rußland.
Welche Gründe waren dafür bestimmend? Seit man von der russi
schen Gesamtmobilmachung wußte, war man in Berlin überzeugt, daß
der Krieg nicht mehr zu vermeiden sei, und von diesem Augenblick an
mußten die rein militärischen Gesichtspunkte ausschlaggebend sein.
Wesentliche Chancen für einen Sieg im Zweifrontenkriege lagen in
der größeren Schnelligkeit und Präzision des deutschen Aufmarsches.