Deutsche Kriegserklärung an Rußland
430
'Man war im deutschen Qeneralstab mit Recht davon überzeugt, daß
Rußland schon nach Verkündung der Teilmobilmachung gegen Öster
reich am 29. Juli, ja eigentlich schon seit dem 25. Juli in der Stille
seine gesamte Armee mobilisiere, und daß man die eigenen Chancen
in unverantwortlicher Weise verringere, wenn man den Gegnern Zeit
lasse, diesen Vorsprung noch zu vergrößern. Man hatte dem, wie
wohl schweren Herzens, zusehen können, solange noch Aussicht be
stand, daß der Krieg vermieden werden könne. Sobald es sicher schien,
daß gekämpft werden müsse, wäre es unverantwortlicher Leichtsinn
gewesen, die Russen ihren Aufmarsch in aller Ruhe vollenden zu lassen,
während wir selbst nichts taten. Daher mußte die deutsche Mobili
sierung folgen. Da aber der Aufmarschplan naturgemäß den kriege
rischen Operationsplan für die ersten Kriegstage einschließt, so ist es
unmöglich, den begonnenen Aufmarsch an der Grenze auf unbestimmte
Zeit anzuhalten, ohne den gesamten Mobilmachungsplan mit seinen
sorgfältigen Fahrplanberechnungen in vollständige Unordnung zu
bringen. Selbst wenn dies aber technisch möglich gewesen wäre, so
hätte ein solches Stillstehen an der Grenze nach erfolgter Mobili
sierung wiederum den Russen Zeit gelassen, ihren weit schwierigeren
Aufmarsch ungestört zu Ende zu bringen. Daher konnte man nach
Beginn der Mobilisation nicht abwarten, ob und wann Rußland uns
den Krieg erklären würde, sondern mußte in irgendeiner Form die
formelle Kriegserklärung in kurzer Frist herbeiführen. Man sah in
Berlin keine andere Möglichkeit, dies zu erreichen, als die Stellung
eines kurzfristigen Ultimatums. Obwohl man sich nicht verhehlte, daß
wir durch dies Vorgehen den Gegnern die Möglichkeit gaben, uns
als die Angreifer hinzustellen, glaubte man dies Bedenken gegenüber
der militärischen Notwendigkeit zurückstellen zu müssen. Auch ver
ließ man sich in etwas naiver Weise darauf, daß doch schließlich jeder
vernünftige Mensch einsehen werde, daß nicht derjenige der wahre
Angreifer zu sein brauche, der die Kriegserklärung ausspreche. Ob
es einen anderen Weg gegeben hätte, das Ziel zu erreichen, ob man
es nicht schließlich lieber darauf hätte ankommen lassen sollen, wie
die Kriegshandlungen sich ohne vorausgegangene Kriegserklärung ent
wickeln würden, mag dahingestellt bleiben.
Die Kriegserklärung Österreichs erfolgte erst einige Tage später.
Noch schwieriger gestaltete sich das Verhältnis zu Frankreich seit
dem 31. Juli. Bisher hatte man in Paris streng die Rolle des unpar
teiischen, lediglich um die Erhaltung des Friedens bemühten Zuschauers
innegehalten. Die Regierung durfte der Welt, und namentlich der
englischen Öffentlichkeit nicht zeigen, wie dringend sie den Krieg
wünschte. Ja selbst der Friedensliebe weiter Kreise, vermutlich der
großen Mehrheit des französischen Volkes gegenüber wäre es ge
fährlich gewesen, sich irgendwie unvorsichtig vorzuwagen. Man rech
nete bestimmt damit, daß Deutschland schließlich durch die mili-