Die belgische Frage
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Es unterliegt keinem Zweifel, daß die alten Verträge von 1818,
die 1831 während der Verhandlungen über die Neutralitätserklärung
Belgiens erneuert waren, für gewisse Fälle ein Einmarschrecht Deutsch
lands im Osten und Englands im Westen stipulierten. Freilich war
es nicht ganz klar, unter welchen Voraussetzungen es ausgeübt werden
durfte. Jedenfalls hatte man 1831 ein solches Recht für vereinbar
mit der Neutralität gehalten. Ebenso steht es fest, daß die englische
Regierung 1870 der Meinung gewesen war, daß die von den Groß
mächten garantierte belgische Neutralität keine volle Sicherheit gegen
den Durchmarsch fremder Truppen biete. Sonst wäre es überflüssig
gewesen, damals besondere Verträge mit Deutschland und Frankreich
abzuschließen, die das Betreten Belgiens für den bevorstehenden
Kampf ausschlossen und England verpflichteten, demjenigen den Krieg
zu erklären, der die belgische Grenze überschreiten würde. Be
kanntlich hat Gladstone auch noch später im englischen Parlament
ohne Widerspruch den Standpunkt vertreten, daß die alten Verträge
nicht genügten, um Belgien vor dem Schicksal zu bewahren, in einem
neuen Kampfe Kriegsschauplatz zu werden. Auch haben weder Frank
reich noch England Bedenken getragen, in ihren älteren Kriegsplänen
die Besetzung belgischen Gebietes ins Auge zu fassen. Ist doch den
Belgiern früher schon gedroht worden, daß auch gegen ihren Willen
ein englisches Heer an ihrer Küste ausgeschifft werden würde. Man
hat diese älteren Pläne offenbar nur deshalb fallen lassen, um sich
des zugkräftigen Arguments, daß Deutschland allein die belgische
Neutralität verletzt habe, vor der Öffentlichkeit nicht zu berauben.
In Berlin hat man 1914 von allen diesen Argumenten keinen Ge
brauch gemacht, sondern sich auf den Standpunkt gestellt, daß der
Durchmarsch durch Belgien an sich ein Vertragsbruch, ein rechts
widriges Beginnen sei, das nur durch das Recht der Notwehr ent
schuldigt werden könne. Offenbar widerstrebte es Herrn v. Bethmann
in tiefster Seele, die dazu erforderlichen diplomatischen Vorbereitungen
ins Werk zu setzen; aber er konnte sich dessen nicht weigern, da der
Generalstab sich den Umsturz seines ganzen Kriegsplans in letzter
Stunde nicht würde haben gefallen lassen.
Auch in London konnte man mit ziemlicher Gewißheit annehmen,
daß die belgische Neutralität verletzt werden würde. Es erschien
nicht ausgeschlossen, daß Deutschland nach dem Siege Belgien voll
ständig annektieren und sich an der flandrischen Küste festsetzen
könne. Mit dieser Möglichkeit konnte man das englische Publikum
jedenfalls ängstigen und es in eine der Regierung erwünschten Stim
mung versetzen. Aber auch abgesehen davon glaubte Grey im Gegen
satz zu der früheren Haltung Gladstones die belgische Neutralität so
auslegen zu können, daß sie jedes Betreten belgischen Gebietes durch
kriegführende Mächte ausschließe. Die Garantie Englands wurde damit
zu einer rechtlich wie moralisch bindenden Verpflichtung gestempelt,