Die englische Kriegserklärung
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daß er selbst sich geweigert hatte, seine Neutralität zu versprechen,
falls Belgiens Grenze nicht überschritten werde.
Dies alles zeigt deutlich, daß Grey damals seinen Entschluß bereits
gefaßt hatte und die Stimmung des Parlaments in seinem Sinne beein
flussen wollte. Dies gelang ihm auch bei der Mehrheit. Die Stimmen,
die sich für Bewahrung der Neutralität aussprachen, verhallten ohne
erhebliches Echo. Allerdings fand Grey auch im Kabinett selbst Wider-
stähd; drei Minister legten ihre Ämter nieder, weil sie mit seiner
Politik nicht einverstanden waren. Aber nach dem Verlauf dieser
Sitzung konnte Grey sicher sein, das Parlament hinter sich zu haben,
wenn er wegen der Verletzung der belgischen Neutralität den Krieg
an Deutschland erkläre.
Am 4. August wies er den Botschafter in Berlin an, seine Frage
bezüglich Belgiens zu wiederholen, und falls er bis Mitternacht nicht
über eine befriedigende Antwort berichten könne, seine Pässe zu
fordern. Da eine solche nicht erfolgte, vielmehr deutsche Truppen
inzwischen bereits in Belgien eingerückt waren, wurde am Abend die
englische Kriegserklärung übergeben. Man weiß, mit 'wie schmerz
lichen Gefühlen der Reichskanzler sie entgegennahm, wie er in ihr den
Zusammenbruch seiner gesamten seit fünf Jahren verfolgten Politik
erblickte. Aber es ist doch kaum anzunehmen, daß er in den letzten
Tagen noch ernstlich auf eine andere Haltung Greys gehofft haben kann.
Sicherlich hat die belgische Frage in der Vorgeschichte der eng
lischen Kriegserklärung insofern eine bedeutende Rolle gespielt, als
sie auch den friedliebenden Teil des Volkes und des Parlaments —
und das war auch hier bei weitem die Mehrzahl — in Kampfesstimmung
versetzt hat. Aber niemand, der die vorausgegangenen Ereignisse kennt,
wird glauben können, daß sie die Haltung der englischen Regierung
maßgebend beeinflußt habe. Grey und die Mehrzahl seiner Kollegen
würden auch auf die Seite Rußlands und Frankreichs getreten sein,
wenn wir nicht durch Belgien marschiert wären. Fraglich ist nur, ob
sie dann der Zustimmung des Landes und der Volksvertretung ebenso
sicher gewesen wären, wie es jetzt der Fall war.
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Blicken wir noch einmal zurück auf die kritischen Tage vom 23.
Juli bis zum 4. August. Was sich hier vor uns abspielt, ist ein Drama
in drei Akten. Der erste Akt bietet die österreichischen Forderungen
an Serbien, die serbische Antwort, die Abreise des österreichischen Ge
sandten aus Belgrad, die Mobilmachung Serbiens und Teilmobilisierung
Österreichs. Dazwischen die verschiedenen Vermittlungsvorschläge der
übrigen Mächte, die ohne Ergebnis bleiben. Deutschland will die Lokali
sierung des Konflikts erreichen, es glaubt nicht, daß Rußland Serbiens
wegen die Verantwortung für einen Weltkrieg auf sich nehmen wird,
zumal da die öffentliche Meinung der Welt Österreich nicht ungünstig