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Deutschlands mangelhafte Vorbereitungen
nung eingestellt. Man glaubte ferner, daß Österreich der mehr oder
minder unparteiischen übrigen Welt als in notgedrungener Vertei
digung seiner Lebensinteressen begriffen erscheinen und daher deren
Sympathien genießen werde. Man hätte eigentlich die Art des öster
reichischen Verfahrens aus früheren Fällen genügend kennen müssen.
Trotzdem versäumte man es aber, sich durch schärfere Bindung der
Wiener Diplomatie an die deutsche Zustimmung bei ihren einzelnen
Maßregeln die Möglichkeit zu schaffen, selbst dafür zu sorgen, daß
nichts geschehe, was unseren Verbündeten als Angreifer erscheinen
lassen und die allgemeine Stimmung gegen die Donaumonarchie ein
nehmen könne.
An den Vorgängen der letzten Tage befremdet es vor allen Dingen,
daß unsere Diplomatie die nun notwendig werdenden Schritte nicht
lange vorher in Ruhe überlegt und vorbereitet hat. Man sollte denken,
daß das gegenüber Rußland, Frankreich, Belgien, England in solchem
Falle einzuschlagende Verfahren in ruhigen Zeiten genau hätte fest
gelegt werden können, daß die entsprechenden Anweisungen an unsere
Gesandten, ja der Entwurf der vom Kanzler im Reichstag zu haltenden
Rede längst hätten bereitliegen müssen, wie es bei den militärischen;
Anweisungen und Aufmarschplänen ja tatsächlich der Fall war. Wir
wußten seit vielen Jahren — und hatten es England gegenüber schon
1901 selbst betont —, daß der große Krieg, wenn er einmal komme,
sich an dem österreichisch-russischen Gegensatz im Orient entzünden
werde. War es da nicht naheliegend, sich die Frage zu stellen: Was
tun wir, wenn Rußland rüstet, aber nicht sofort angreift? Oder wenn
Frankreich zögert und uns dadurch die Ausführung unseres Feld
zugsplans unmöglich zu machen droht? Wie begründen wir den —
seit langem beabsichtigten — Durchmarsch durch Belgien? Wie be
reiten wir die öffentliche Meinung auf unsern Schritt vor? Alles dies
hätte unter Mitwirkung des Generalstabs genau festgelegt werden
können und müssen. In den Stunden und Tagen fieberhafter Erregung
während der Krise selbst fehlte es an Zeit und Ruhe, um dies alles
gründlich und vorsichtig in die Wege zu leiten.
Diese schwere Unterlassungssünde empfängt eine noch schärfere
Beleuchtung, wenn wir bedenken, daß auch die wirtschaftliche Mobil
machung nicht vorbereitet war. Deutschland war im August 1914
zwar militärisch soweit gerüstet, wie dies bei unserer gefährdeten Lage
stets der Fall sein mußte; es hat aber, selbst als die Lage kritisch zu
werden begann, nicht das geringste getan, was auf unmittelbare An
wendung seiner militärischen Machtmittel hinzielte, sogar manche recht
naheliegende Vorsichtsmaßregeln lange unterlassen. Diplomatisch und
wirtschaftlich war es auf einen Krieg überhaupt nicht vorbereitet.
Das alles läßt sich, wie mir scheint, nur auf eine Art er
klären. Man hat tatsächlich in Berlin bis zum Beginn des letzten Aktes
gar nicht im Ernst an die Möglichkeit eines allgemeinen Krieges