Full text: Von Bismarck zum Weltkriege

Grundzüge der deutschen Politik 
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der anderen, ohne daß ein wichtiges Lebensinteresse oder ein großes, 
wertvolles Streitobjekt dies gerechtfertigt hätte. Für gute Dienste ver 
langten wir stets durch Gegenleistungen bezahlt zu werden, die ge 
rade wegen ihrer verhältnismäßigen Geringfügigkeit die Verstimmung 
nicht lohnten, die sie erzeugten. 
Eine Verbindung der beiden Mächtegruppen gegen uns hielten 
wir für unmöglich und glaubten die vorteilhafte Mittelstellung zwischen 
beiden behaupten und zur Erlangung kleiner Vorteile ausnutzen zu 
können. Das englische Bündnisangebot beantworteten wir mit der 
Aufstellung von Bedingungen, die dem Inselreich als unannehmbar 
erschienen. Wir glaubten, man werde wiederkommen, wenn man sich 
jenseits des Kanals überzeugt habe, daß die Opfer für eine Ver 
ständigung mit Frankreich und Rußland zu großi seien. Anstattdessen 
vertrugen sich Frankreich und England auf unsere Kosten. 
Auf der anderen Seite lockte der Gedanke des Kontinentalbundes 
gegen England. Als die britischen Staatsmänner sich Frankreich zu 
nähern begannen und Rußland im schweren Kampfe in Ostasien stand, 
suchten wir diese andere Möglichkeit durch den Björkö-Vertrag zu 
verwirklichen, in der Hoffnung, daß Frankreich sich freiwillig oder 
gezwungen diesem Bunde werde anschließen müssen. Aber Rußland 
wich alsbald nach dem Friedensschluß mit Japan der Erfüllung dieser 
unangenehmen Verpflichtung aus, um das vorteilhafte Verhältnis zu 
Frankreich nicht aufs Spiel zu setzen. Von den Westmächten wurde 
es nun allmählich in ihren Kreis gezogen. 
Die Zeit der Pendelpolitik war damit endgültig vorüber. Wir 
hatten es versäumt, in der Zeit, wo man uns brauchte, das Bündnis 
mit England zu schließen, und zu spät erkannt, daß der Gedanke des 
Kontinentalbundes eine unrealisierbare Utopie war. 
Nun geschah, was wir für unmöglich gehalten hatten: Rußland 
und England verständigten sich ebenfalls über ihre alten Streitfragen, 
und wir standen seit 1907 nicht mehr zwei einander feindlichen 
Gruppen, sondern dem immer fester werdenden Block der „Entente“ 
gegenüber. Damit begann die zweite Periode. 
Wir standen jetzt unter dem Druck der Erkenntnis, daß wir in 
die Defensive gedrängt seien. Wir erfuhren es in Marokko und in den 
Balkanfragen. Wir hätten vielleicht die Entente noch zersprengen 
können, wenn wir auf die Flottenverständigung eingegangen wären, 
die England wünschte. Wir taten es nicht, weil wir der politischen 
Haltung Englands auch dann nicht sicher zu sein glaubten und uns 
ein wichtiges Verteidigungsmittel nicht schwächen lassen wollten. Wir 
hielten aber trotz der veränderten Weltlage an dem alten Kompen 
sationsgedanken fest, der nun sehr viel schwerer als früher durch 
zuführen war. Wir suchten zuweilen das aufsteigende Gefühl der 
Gefahr unserer Lage durch große Worte und den Hinweis auf unsere
	        
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