Die englische Politik
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Seite gewesen. Der Generalstab hat pflichtgemäß darauf aufmerksam
gemacht. Unsere Regierung hat diese Möglichkeit nie ernstlich er
wogen und noch 1909, als man in Österreich den Einmarsch in Serbien
in Betracht zog, immer im Sinne des Friedens gewirkt. Vielleicht
wäre es richtiger gewesen, damals scharf zuzugreifen, aber man wollte
es nicht, weil man den Frieden nicht ohne Not brechen wollte. Unsere
Politik war trotz aller großen Worte im Grunde eher zu ängstlich
und zu friedliebend als zu kriegerisch. Wir wollten auch niemals auf
Kosten anderer gewinnen, sondern immer nur neben ihnen und mit
ihnen an der Aufteilung der Erde teilnehmen.
Kann man das gleiche von den anderen beteiligten Mächten sagen?
Am ehesten noch von England. Soweit wir es nach den bisher
verfügbaren Quellen feststellen können, hat auch in England niemand
eigentlich den Krieg gewollt. Die in Deutschland verbreitete Ansicht,
als habe Großbritannien den Kampf geführt, um unsere immer ge
fährlicher werdende wirtschaftliche Konkurrenz gewaltsam nieder
zuschlagen, ist schwerlich begründet. Aber man fürchtete jenseits
des Kanals unsere wachsende politische und militärische Macht, fühlte
durch das Anwachsen unserer Schlachtflotte die eigene Seeherrrschaft
und Sicherheit bedroht, und traute uns die Absicht zu, uns der Hege
monie auf dem europäischen Kontinent zu bemächtigen. Um sich
gegen solche Möglichkeiten zu sichern und uns nicht zu einer dauern
den schiedsrichterlichen Stellung gelangen zu lassen, schuf man die En
tente, nachdem das Bündnis mit Deutschland gescheitert war. Sie sollte
nach der Absicht der englischen Staatsmänner ein Mittel zur Erhaltung
des Gleichgewichts sein, sollte Deutschlands Macht und Ehrgeiz in
Schranken halten, war aber aller Wahrscheinlichkeit nach anfangs nicht
als ein Kriegsinstrument gedacht. Allerdings unterschätzte man in London
wohl anfangs die Gefahr, die in der Zerteilung Europas in zwei feind
liche Bündnisse lag. Als man sie erkannte, suchte man die Fühlung
mit Deutschland wieder herzustellen, ohne indessen die Entente auf
zugeben, eine Art Stellung über den Parteien zurückzugewinnen. Aber
man hatte sich schon zu eng an die andere Gruppe gebunden und
besaß nicht die Macht, die Politik der Verbündeten ganz in den er
wünschten Bahnen zu halten. Da man der Überzeugung war, daß in
einem Kampfe ohne Englands Beteiligung Deutschland siegen und
Herr des Kontinents werden würde, mußte man, wenn der Krieg nicht
zu verhindern war, an der Seite Frankreichs und Rußlands stehen,
wenn man nicht gerade die Lage entstehen lassen wollte, zu deren
Verhinderung die Entente geschlossen war. So war auch England
schließlich von den Entschlüssen seiner Verbündeten abhängig ge
worden, ohne es zu wollen und ganz klar zu durchschauen. Daß
Grey sich persönlich an die Ententepolitik gebunden fühlte, war natür
lich von großer Bedeutung. Aber er hätte im entscheidenden Augen
blick gestürzt werden können. Die Entschlüsse Englands hingen nicht