Frankreich und Rußland
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wo die Rüstung vollendet sei, und wo eine der gegnerischen Mächte
durch eine Unvorsichtigkeit die Möglichkeit gewähre, sie als den an
greifenden Teil hinzustellen. Denn das war nötig, sowohl um die
Meinung der Massen in den eigenen Ländern zu gewinnen, als mit
Rücksicht auf England, dessen vorsichtige Regierung und dessen fried
liebendes Volk. Die Ziele aber, die diese Gruppen verfolgten, waren
ohne Krieg überhaupt nicht zu erreichen. Die Franzosen wollten den
Deutschen Elsaß-Lothringen entreißen; die Russen wollten sich den
Weg zur Beherrschung des Balkans und der Meerengen öffnen, wollten
die unter deutscher, österreichischer und türkischer Herrschaft stehen
den Slaven aus den bisherigen Staatsverbänden lösen und ihrem
Machtkreise eingliedern. Sie waren es, die erobern, die auf fremde
Kosten gewinnen wollten, nicht Deutschland.
Die geschickte und skrupellose Minierarbeit dieser verhältnismäßig
kleinen Gruppen hat den Weltkrieg vorbereitet. Sie sind vor den
furchtbaren Konsequenzen eines solchen Völkerringens nicht zurück
geschreckt, wenn sie nur ihre Ziele erreichten. Sie haben schon wäh
rend der Balkankriege auf die Gelegenheit gewartet und sie im Juli
1914 freudig ergriffen. Ihr Werk war die russische Mobilmachung,
die den Krieg zur unmittelbaren Folge hatte.
Wir besaßen leider keinen Staatsmann, der diesen schlauen und skru
pellosen Diplomaten gewachsen war. Durch Österreichs Plumpheit und
Deutschlands ängstliche Rücksichtnahme auf den letzten Verbündeten
wurde ihnen der Anlaß geboten, den sie brauchten, und mit Meister
schaft benutzten.
Ich habe mich mit allen diesen Betrachtungen absichtlich auf das
Gebiet der unmittelbaren Ursachenverknüpfung beschränkt. Indessen
kann ich dieses Buch nicht schließen, ohne wenigstens kurz auf die
tieferen Gründe der großen Weltkatastrophe hinzuweisen.
Die seit etwa 1880 einsetzende schnelle Aufteilung Afrikas und
der Südsee unter die europäischen Großmächte hatte eine Atmosphäre
starker politischer Spannung geschaffen. Diese erhitzte sich noch mehr,
als seit 1895 der Aufteilungsprozeß auch Ostasien und das Gebiet
der Türkei ergreifen zu wollen schien. Solange noch verfügbares Land
vorhanden war, konnte eine Politik der Kompensationen als Ventil
dienen und die Explosion verhüten. Je geringer der verfügbare Raum
wurde, desto sthwerer und geräuschvoller funktionierte dies Ventil.
Das Eingreifen Amerikas in Ostasien und das Heranwachsen Japans
zur Großmacht schloß den ganzen Osten Asiens für absehbare Zeit
praktisch von der Aufteilung aus. Afrika war schon 1900 verteilt bis
auf Marokko und Abessynien. Der ganze Konkurrenzkampf der Mächte
konzentrierte sich nun auf Marokko und das türkische Reich.
Hinter diesen weltpolitischen und kolonialen Gegensätzen standen
starke wirtschaftliche Interessen der führenden Industrie- und Han
delsvölker. jedes von ihnen war bestrebt, sich möglichst große Absatz