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B. 2, K. 2, 8 21. Philippismus und Luthertum
Als Lutheraner der älteren Art darf man den S. 133 f. genannten Jo—
hannes Vorstius bezeichnen. Er war ein Freund Westphals“) und bewog
durch temperamentvolle Reden seine Münsterdorfer confratres zur Unterschrei—
hung des gegen die Wittenberger Theologen gerichteten, von Joachim Mörlin ab—
gefasiten sog. Lüneburger Bekenntnisses (1801). Er war jedoch kein Brenzianer
und persönlich zum Frieden und zur Versöhnung geneigt.
Wenden wir uns nun vom Luthertum zum Philippismus, so ist, wie
schon bemerkt, von Reichsdänemark, wo wir das Gros der Pfarrer theologisch
dielleicht noch einen Grad tiefer als bei uns stehend denken dürfen, zu sagen, daß
dort diese Richtung die ausschliesilich und konkurrenzlos herrschende war. Die
besseren Theologen waren allzumal gute Philippisten, sowohl der oberste Geistliche
des Landes, der Bischof von Seeland, Paul Madsen, wie der dänische Hof—
prediger König Friedrichs II, Anders Vedel, wie auch sein einflustreicher
deutscher Hofprediger Cheristoph Knopf. Auch die Universität in Kopen—
hagen war rein philippistisch bestimmt. Der grösite Theologe aber, der Mann, der
in langer akademischer Wirksamkeit fast die ganze jüngere Generation gebildet
hatte, die auch im Auslande weithin berühmte sog. Leuchte Dänemarks, Niels
Hemmingsen, war ein ganz echter Melanchthonianer in dem von mir ge—
kennzeichneten Sinne. Von Haus aus eine mehr gelehrte als religiöse Natur,
hatte er sechs Jahre lang in Wittenberg an den Brüsten des Meisters gesogen
und war so ein wirklich echter Erbe seines Geistes geworden. Er teilte mit diesem
die Vorliebe für das kirchliche Altertum und die streng orthodore Christologie,
d. h. die strenge Scheidung zwischen der menschlichen und der göttlichen Natur
des Erlösers sowie auch die antike Auffassung von Himmel und Hölle als räumlich
begrenzter Oertlichkeiten. Von diesen wissenschaftlichen Voraussetzungen aus kam
er gerade wie sein Meister zu Zweifeln an der lutherischen Realpräsenz und
näherte sich noch stärker als dieser der kalvinistischen Auffassung vom Abendmahl.
Wenn ich nun daran gehe, die vornehmsten unter unseren Philippisten
zu charakterisieren, so wird füglich zuerst zu nennen sin Johannes Pisto—
rius oder Becker'), geb. 1828 in Husum als Sohn des Archidiakonus und
Mithelfers des Reformators Hermann Tast, Mag. Theodor Becker, gestorben
16005 nach 48jähriger Amtstätigkeit als Pastor in Tetenbüll. Hochbegabt und
kenntnisreich, wie er war, wurden ihm mehrfach höhere Ehrenstellen angeboten,
aber er verließ sein Tuskulum in Tetenbüll nicht, vermutlich, weil er da nicht nur
schöne Muße zu den geliebten Studien fand, sondern auch, weil er, der unter den
Philippisten, wenn wir diesen Ausdruck gebrauchen wollen, verhältnismäsiig weit
links stand, in der Stille und Verantwortungslosigkeit einer Landpfarre vor den
Angriffen seiner dogmatischen Gegner, an denen es ihm nicht fehlte, sich am
sichersten fühlte. Obgleich er als theologischer Schriftsteller in keiner Weise auf—
getreten ist, hatte er doch unter seinen Freunden einen grossen Einflusi und ein
hohes Ansehen. Er hat auch für die Nachwelt ein großes Verdienst gehabt. Er
hat nämlich ebenso wie Joachim Westphal in Hamburg alle Briefe, die er von
seinen Freunden bekam, sorgfältig in ein Buch geschrieben. Dies sein Briefbuch,
das in der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen liegt, ist, wie das Westphalsche
für den Kreis der norddeutschen Lutheraner, so seinerseits für den der dänischen
und schleswig-holsteinischen Melanchthonfreunde eine überaus wertvolle Erkenntnis—
) Vgl. Konk. S. 31 ff. Vorstius Reden s. Dän. Bibl. VII, S. 177- 186.
) Ueber ihn val. Krafft a. a. O. S. 220 ff.