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B. 2, K. 2, 9 23. Schwärmertum
seiner Ablehnung. Es mag sein, daß die Aufregung und der Schmerz über diese
Vorgänge das Ende Sinknechts beschleunigt hat, jedenfalls ist er, von seiner
„Unschuld“ fest überzeugt, schon Ende 1035 verstorben.
Ein begründetes Urteil über seine Lehrirrungen würden wir nur gewinnen
können, wenn uns Proben aus seinen Predigten erhalten geblieben wären. Das
ist jedoch nicht der Fall; das Quellenmaterial ist überhaupt sehr dürftig. Dogmen—
geschichtlich interessiert uns auch viel weniger, was dieser anscheinend nicht sonder—
lich bedeutende Mann im einzelnen gesagt hat, als was die damalige
hbutherische Theologie und insonderheit ein Hunniusan
seiner Lehrweise zu tadeln gehabt hat. In dieser Beziehung
ind folgende Punkte besonders bemerkenswert:
1. daß er in seinen Predigten die Wertlosigkeit der akademischen und kirchlichen
Titulaturen gekennzeichnet hat. Das war sicher neutestamentlich (Matth. 23,
8—2 12). Aber es rührte an die Grundlagen der damaligen Kirche, in der keines—
vegs das „Recht der Gemeinde auf freie Schriftforschung“ (Prahl S. 155) an⸗
erkannt war, vielmehr „die Feststellung des Glaubensinhaltes der heiligen Schrift“
als Vorrecht der „Gelehrten“ betrachtet wurde. Dies Vorrecht aber wurde damit
hegründet, daß allein die „Gelehrten“ die Sprachen des heiligen Geistes, die
Ursprachen der Schrift verstinden. Deshalb wurde es gleichfalls als anstößig
befunden, daß Sinknecht das Lernen der alten Sprachen für die Prediger als
nicht erforderlich bezeichnet hatte. In beiden Stücken hat er durchaus mit denen
susammengestimmt, die damals als „weigelianische“ Schwarmgeister beurteilt wur—
den: das Recht auf freie Schriftforschung auch der Laien hat erst der Pietismus
in die lutherische Kirche hineingebracht.
2. Daß er seine Zuhörer oft an die „Gelassenheit“ gemahnt hatte.
Dieser Ausdruck kann und konnte zwar in rechtem, unanstößigem Sinne gebraucht
werden. Seine starke Prononzierung jedoch stammte aus der mittelalterlichen
Mystik und war gerade den Schwarmgeistern sonderlich geläufig. In dem Be—
denken gegen diesen Ausdruck, das die Orthodoxren hegten, liegt etwas durchaus
Gesundes.
3. Das er „pro concione gesagt habe: Die menschlichen leiber, die in der
Erden verscharret werden, kehmen nicht wieder herfür““, und damit viel einfältige
deute vor den Kopf gestoßen habe. Mögen wir Heutigen uns lieber an die pau—
linische Lehre 1. Kor. 15 von einem geistlichen Auferstehungsleibe als an die sym⸗
bolische Lehre von einer Auferstehung des Fleisches halten — es leidet keinen
Zweifel, daß die grobsinnliche Auffassung des Auferstehungsvorganges zu jener
Zeit nicht nur volkstümlich war, sondern auch als orthodox galt, insonderheit in
Dänemark und dem königlichen Anteil der Herzogtümer, da sie im 25. Stück der
„Fremdenartikel“ ausdrücklich vorgeschrieben wird.
4. Daß man auch an Sinknechts Reden vom „täglichen und innerlichen Sabbat“
Anstoß nahm, entspricht ganz der gesetzlichen Art, welche die lutherische Kirche im
Gegensatz zu Luthers freier Stellung zum Zeremonialgesetz angenommen hatte *).
Im Ganzen wird man sagen müssen, daß Sinknecht, ohne sich selbst darüber
recht klar gewesen zu sein, Ideen ausgesprochen hat, welche zwar später durch den
Pietismus Heimatrecht in der lutherischen Kirche bekommen haben, zu seiner Zeit
aber von der reinen und unverfälschten Orthodoxie als schwarmgeistig beurteilt
wurden.
21) Die gesetzliche Art, in welcher die Orthodoxie das Sabbatsgebot auffaßte, werden wir
noch weiterhin aus einem interessanten Lehrstreit zu beleuchten haben.