Full text: 1517 - 1721 (2)

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Br. behielt jedoch die Erlaubnis in Zwolle zu bleiben. Er mietete sich dort 
ein Haus und fuhr fort, vor seinen Anhäugern zu predigen, aber sein „Kloster“ 
musite natürlich aufgehoben werden. Die vier Jahre, welche er nach seiner Ab— 
setzung noch in Zwolle verlebte, gingen in ziemlicher Dürftigkeit hin. Er lebte 
wesentlich nur von freiwilligen Gaben, welche seine Verehrer ihm zukommen 
liessen. Einen Teil seiner Bedürfnisse deckte seit 1070 die Aebtissin des reichs— 
inmittelbaren Klosters zu Herford, die gelehrte und fromme Prinzessin Elisabeth“). 
Aufgrund einer „Offenbarung“ durch seine Frau verließ Br. 1672 Zwolle und 
zog iach Amsterdam. Hier fand er einen Erwerb als Korrekturenleser für 
die vielen dort ansässigen Buchdruckereien und damit in Verbindung mit den 
Unterstützungen durch seine Freunde ein zwar dürftiges, aber ausreichendes Brot “). 
Nach 18jährigem Aufenthalt in Amsterdam, zog er, da er das dortige feuchte 
Klima nicht vertragen koönnte, 10900 nach dem Haag. Hier ist er am 10. März 
1711, 82 Jahre alt, entschlafen. 
Wenn wir das Wesen und das Leben dieses unseres Landsnmannes anschauen, so 
können wir auf der einen Seite nur bedauern, daß er mit seiner starken Kraft 
und seinem brennenden Eifer unserer Kirche in einem ordentlichen Amt nicht 
hat dienen können. Auf der andern Seite aber müssen wir sagen, daß er zu einer 
ruhigen Amtsführung in einer geordneten Kirchengemeinschaft anscheinend über— 
haupt nicht im Stande gewesen ist. Er war ein Einzelgänger, ein 
Individualist in krassester Form, eine Herrschernatur und doch 
zu einem Führer und Reformator nicht geeignet. So ist er ein Ejewissenswecker, 
ein Prophet geworden, aber eine Gemeinschaft hat er nicht gestiftet. Auch inner— 
halb der pietistischen Bewegung, in die wir ihn ohne Zweifel hineinrechnen dürsen, 
ist er vermöge seiner kritischen Ader ein Einzelgänger geblieben. Spener hat 
etwas von ihm gehalten, aber seine Maßilosigkeit bedauert. Umgekehrt hat er 
Spener als Leisetreter beurteilt. Trotz einer gewissen Pietät, mit der er an dem 
ererbten lutherischen Kirchentum hing — er forderte nur den inwendigen Ausgang 
aus „Babel“, nicht die äußere Trennung von der Grostkirche — ist er zu den 
„wilden“ Pietisten zu rechnen; mit Recht rechnet auch der besonnene V. E. 
Löscher ihn zu den „fanatiquen““, kirchlich untragbaren Pietisten. Besser als 
Spener gefiel ihm A. H. Francke und der Hallesche Pietismus. In diesem 
sah er sein Ideal einigermasien erfüllt und hat deshalb der Halleschen Universität 
hörte sie göttliche Stimmen, die der Gatte liebevell als „Offenbarungen“ wertete. So wurde 
seine Frau für ihn, was Auna Maria Schurmann für Labadie, Madame Guvon für Fénelon, 
Antoinette für Poiret und Johanna Eleonore, geb. von und zu Merlau für Johann Wilhelm 
Petersen war. Sie war für ihn die vollendete Geistigkeit, das reinste Produkt der völligen Zer— 
nichtung ihrer selbst und ihres völligen Aufgehens in die mystische Gemeinschaft mit dem er— 
höhten Herrn. Insofern ist die Verehrung, die er seiner Frau schenkte, doch auch ein Zeichen 
der nicht völlig gesunden Art seines Christentums. Immerhin hatte sie doch soviel „fleischliche“ 
Kraft, dasi sie ihm zwei gesunde Söhne und mit der Pflicht zu deren Auferziehung und Wer— 
sorgung ein gesundes Gegengewicht gegen seine Neigung zu geistlicher Überstiegenheit schenkte. 
*i) Deren Freundschaft jand Br., als er mit Jean de Labadie und A. M. Schurmann 16070 
gen Her for d gezogen war. Die hohen geistlichen Erwartungen und Hofinungen, mit denen 
er diese Pilgerreise angetreten hatte, erfüllten sich nicht. Er entdeckte schliestlich in der pietisti— 
schen Gemeinschaft de Labadies nur ein neues „Babel“, in welchem das fromme Einielsubjekt 
zu seiner Entfaltung noch weniger Platz als in dem alten finde. Zu Herford vgl. oben S. 212. 
Die Unterstützung durch Prinzessin Elisabeth (140 Rthl. jährlich) dauerte bis an ihren Tod 
(l680) und wurde auf deren Empfehlung in reichlicherem Masie von Maria von Oranien, der 
Gattin Wilhelms von Oranien, fortgeseßt. 
29) Dasi auch seine Verwaudten für seines Leibes Nahrung und Notdurft sorgten, ersehen 
wir aus dem Briese seines Bruders (Bu MoO5, S. 4860).
	        
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