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in jenem Streit gewechselten Schriften keine bekannt geworden, die man noch
heute mit solchem Genuß lesen kann wie dieses Elaborat des Schenefelder Bauern—
pastors. Ein nicht unbeträchtliches Maß von theologischem Wissen und Ver—
ständnis ist hier verbunden mit einem kaustischen Witz und einem bei „Gelehrten“
nicht allemal zu findenden gesunden Menschenverstand. Das Buch ist zunächst
gegen das eben erwähnte „unverschämte Pasquill“ wider D. Schwartz (Schreiben
eines Freundes) gerichtet, zieht dann aber auch Sandhagens und Muhlius „sub—
tilen“ Chiliasmus, sowie den verkehrten Schriftgebrauch und die übrigen Schwä—
chen uͤnd Fehler des Pietismus in den Bereich seiner amüsanten Betrachtungen.
Es versteht sich von selbst, daß er diese Bewegung nicht mit den Augen historischer
Gerechtigkeit anschaut, sondern von seinem persönlichen Standpunkt aus. Er ist
ein Orthodoxer von gutem Schrot und Korn, der das Alte und Bewährte nicht
neumodischen Erfindungen zu Liebe aufgeben will. Der Pietismus ist ihm die
Theologie à la mode, die sich mit ihrem Schein von besonderer Frömmigkeit
bei Fürst und Volk einschmeicheln will, um schliesilich doch nur dem eigenen Ruhm
und Vorteil zu dienen.
Im einzelnen ist es sehr witzig, wenn er Petersen „mit seiner Prisca und Marimilla“ als
den „niederjächsischen Montanus“ bezeichnet und über dessen „Martyriunm“ spottet, das darin
besteht, daß „Papa und Mama sich divertiren, nach dem Baade Sauerbrunnen reisen und
jhres Leibes warten“, während von denen, die sie am Marrenseil führen, auch hier in Holsitein,
Kolletien sür neue Fenster in seinem Herrenhaus zu Miederdodeleben gesammelt werden. Oder
wenn er sagt, daß er Schwartz als ein graues Haupt venerire, „dessen Schnee tausendmal
besser und ehrlicher als alles Poudre, damit etwa ein gelbschnäbelichter Theologus und früh
reiffer Professoer und Surerintendent sein blonde perruque beträuen und frisiren mag“ (S. 10).
Oder wenn er meint, daß bei jenem Auftritt im Fleusburger Landgericht ohne 1). Schwartzens
„Moderation das Dintfaß und die Sandbüchse den Blättern wohl nachgeflogen wäre ...“
Gegen die willkürtiche Schriftauslegung der Pictisten vergl S. 152f.: „.... eine gantz
nagel-neue Methode die Schrifft zu erklären, dadurch allen müstigen oder auch hochfahrenden
Geistern Thür und Thor aufgethan und ein weit offenes Feld gezeiget wird, Grillen zu fangen,
mit Allegorien und selbst ertichteten Typis und Vorbildern das hundertste ins tausendste zu
mengen, und quidvis ex quovis nach Coccejanisch-Rabbinischer Methode heraus zu spinti—
siren; welches zwar unserm evangelischen Christenthum um so viel gefährlicher, weil diese
Grillenfängereien von Muhlio schon par avanceé canonisiert sind“. Von der allegorischen Ver—
wendung des mosaischen Kultus durch Muhlius und Genossen S. 192: „... die, so da
Christen, und zwar ungemeine Christen und Christliche Lehrer zu seyn praetendiren, wühlen
in den Steinen des Tempels, und raspeln in der Aschen, wozu Hütte und Tempel längst ge—
worden, als wenn lauter Thesaurn und lauter Ecksteine drin verborgen, darauf die christliche
Religien bestünde, da niemand einen andern Eckstein legen kann, als der schon geleget ist,
welcher ist Jesus Christus““. Von der ungesunden Sucht der Pietisten, die Zukunft der
Kirche erforschen zu wollen S. 1573 f.: „Ueberdem ist es den armen Menschen sehr naturel,
daß sie, wie die praeterita und pracsentia, also auch die fulura mit wissen und dem lieben
Gott in sein geheimes Cabinet kucken wollen.“ Wie den Mativitätenstellern und Prognosti—
tanten „gebts auch den Chiliasten und heutigen Propheten: sie haben keine Geduld es abzu—
warten und sich zu bereiten, biß sie in der That erfahren, was Gott bereitet hat denen die ihn
lieben; sondern sie wollens mit ihbren Somniis suavibus und süsien Träumen gleichsam auti—
cipiren, sehen aber nicht, daßs viel 1000 von ihnen eben darüber zu Svott und Schanden
worden.“ Wie eine Weissagung auf das Verwüstungswerk, das seit 200 Jahren der „Liberalis—
mus“ inbezug auf Kirche und Religion angerichtet hat, klingt es, wenn Wf. gegen die Ueber—
betonung der christlichen Freiheit durch die Pietisten sagt (S. 17): „Wo der liebe Gott nicht
Mittel hierin schaffet, so dürffte uns diese Freyheit Tauff und Sacrament, Sonn- und Fest⸗
tage, Prediger und Kirchen, ja den gantzen Gottesdienst und die Religion endlich selbst zum
16048 als Sohn des Pastors Venedict Ventzen in Schenefeld geboren, studierte in Wittenberg
und Kopenhagen, ward 1086 Pastor in Stellau, 1088 Nachfolger seines Vaters in Schene—
feld, 1704 Propst in Meldorf, 71709. Literarisch hatte er sich schon 10927 durch eine gegen
Thomasius gerichtete Schrift (Christianus minime Christianus) bekannt gemacht.