§37. Der musikalische Teil des Gottesdienstes.
l. Der Kirchengesang.
Von großem Interesse ist die Frage, was und wie unser s.h. Volt
indererneuerten Formdes Gottesdienstesgesungenhat.
Wir müssen hier deutlich unterscheiden 1. zwischen den verschiedenen Perioden,
2. zwischen Stadt und Land.
. Was die verschiedenen Perioden des Luthertums angeht, so ist zu sagen, daß
die Fülle des evangelischen Kirchengesanges erst mit der frommen Orthodoxie und
dem Pietismus gekommen ist, also erst von etwa 10580 an. Während des ersten
nachreformatorischen Jahrhunderts ist der Kirchenliederschatz noch verhältnismäßig
klein, wenigstens an original-evangelischen Liedern. Wie in der Liturgie zehrt auch
in bezug auf den Kirchengesang die lutherische Reformation wesentlich von dem
reichen Erbe der katholischen Vergangenheit. Das erste „allgemeine“ Gesangbuch
für das lutherische Deutschland ist Luthers auch nach seinem Tode immer wie—
der in vermehrter und „verbesserter“ Bearbeitung auch in niedersächsischer
Sprache herausgegebene „Enchiridion“). Wir haben anzunehmen, daß im
ersten nachreformatorischen Jahrhundert der Kirchengesang unseres s.h. Volkes
sich auf die im Enchiridion gegebene Auswahl beschränkt und darüber hinaus die
im ganzen lutherischen Deutschland gebräuchlichen Detemporelieder (vergl. R. v.
Liliencron) gesungen hat.
2. Wir haben einen großen Unterschied zu machen zwischen Stadt und Land
oder vielmehr, da es in unserem Lande, vor allem in den Marschgegenden, auch
Landschulen gab, welche Latein lehrten und einen guten Knabenchor besaßen, zwi—
schen solchen Gemeinden und den ärmeren, einfachen Landgemeinden, welche als
Leiter des Kirchengesanges lediglich einen Küster besaßen, der oft kaum lesen und
schreiben konnte. An den ersteren Orten konnten musikalisch Anspruchsvollere sich
an lateinischem Kirchengesang erfreuen, dort war es auch vermöge des besseren
Schulunterrichts und der weiteren Verbreitung der Lesekunst leichter, den Ge—
meinden neue Texte und Melodien beizubringen. In den ärmeren Landgemeinden
dagegen konnte das Neue den Leuten nur auf mündlichem Wege beigebracht
werden. Soweit es Schulen gab, wird der Lehrer (der Kaplan, der Küster oder an
„Dorfschulen“ der für den Winter gemietete „Schulhalter“) mit dem Terte des
Katechismus sowie des Morgen-, Mittag- und Abendsegens auch die nötigsten
Kirchenlieder „eingebläut““ haben. Bei den Erwachsenen half hier und da der
Pastor selber mit).
Bei so beschaffenen allgemeinen Kulturverhältnissen darf man annehmen, daß
die Aneignung des neuen Liederschatzes auf dem platten Lande
außerordentlich langsam ging. Hier hat man sich offenbar noch viele Jahrzehnte
mit einem sehr geringen Worrat immer wiederholter Kirchenlieder beholfen und
namentlich solche bevorzugt, die man wenigstens der Melodie nach schon „im
Papsttum“ erlernt hatte '). Allmählich ist dann durch den Fleiß der Pastoren und
) Ein sehr schönes Eremplar des niedersächsischen Enchiridions (Wittenbera, 15600) befindet
sich in der Bibliothek des Landeskirchenamts.
2) So berichtet Fabr. 1039 von Boren, daß „der tüchtige Pastor den Leuten offt von
der Kantzel die gewöhnlichen Psalmen vorlieset, damit sie selbige recht singen lernen“.
J Als solche darf nian aus dem niedersächsischen Enchiridion etwa nennen: De Dach de vs