Der Kirchengesang
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wo es Lateinschulen gab, war ein Sängerchor leicht zu beschaffen: er wurde von
den älteren Schülern gestellt und vom Kantor, d. h. einem Mitglied des Lehrer—
kollegiums, geleitet. Auf dem platten Lande dagegen haperte es auch in dieser
Beziehung vielfach. So fand Fabr. in Böel gar keine Kinder im Chor, in
Rabenkirschen nicht mehr als zwei. Das im ganzen so wenig sangesfrendige
Sieseby besaß doch einen guten Sängerchor“). Wo auch der Chor versagte,
lag sowohl das Respondieren wie die Leitung des Gemeindegesanges ganz auf den
Schultern des Küsters (oder Kaplans?) oder eines freiwilligen Vorsängers in
Gestalt eines „Hausmannes“ oder sonstigen Gemeindegliedes, mag daher oft
kümmerlich genug gewesen sein.
Der Kirchenchor bestand stets aus Knaben — auch das mag mit ein Grund
dafür gewesen sein, daß das Weibsvolk sich schlechter am Gemeindegesang be—
teiligte als das Mannsvolk, das doch zu einem Teile in der Jugend im Chor mit—
gewirkt hatte. Er hat seinen ursprünglichen Platz im „Chor“, d. h. dem Altar—
raum oder, wo ein solcher vorhanden war, auf dem Lettner. Wo es eine Orgel
gab, befand sich der Chor, soweit „auf der Orgel“ Platz war, dort ). Aber da
dort öfter der Platz nicht ausreichte, musite der Chor vielfach weit von der Orgel
getrennt seinen alten Ort behalten. Das war für das Miteinanderwirken von
Chor und Orgel natürlich nicht günstig. Es will jedoch bedacht sein, daß in un—
serer Periode der Gemeindegesang nicht von der Orgel, sondern nur vom Chor
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2. Gesangbücher.
„Außergewöhnlich spät beginnt die Geschichte der s.h. Gesangbücher, später als
die jedes anderen Gebietes von dieser Größe im evangelischen Deutschland.“ So
beginnt die wertvolle Darstellung E. Bredereks?), der ich in diesem Ab—
schnitt folge.
Daß unsere Kirche wie so viele andere Jahrhunderte lang ohne Gesangbücher,
d. h. ohne offiziell von der Kirchenleitung angeordnete und allgemein von der
Gemeinde gebrauchte geistliche Liedersammlungen ausgekommen ist, erscheint uns
Heutigen erstaunlich, ist aber bei dem Stande der allgemeinen Volksbildung be—
greiflich. Zwar haben die lutherischen Landeskirchen schon früh eine Liedersamm—
5) Darüber berichtet Fabr.; „Die Knaben kommen auch fein mit zu Chor, singen die
Christliche Psalmen mit, können auch fein die Litaney mit vorsingen, da Küster und Gemeinde
antworten.“
6) Ergötzlich erzählt Fabr. von dem Pastor zu Blekendorf: „Er klaget über großen
Schwindel des Häupts und Mattigkeit des Leibes, kan den Gesang auff dem Chor wegen des
Gethöns nicht vertragen, darümb die Schüler auff der Orgel, die aber nicht geschlagen wird,
weil sie bey der Kriegszeit verderbet, singen müssen; er hat es zwar einmahl mit dem Gesang
im Chor versuchet, aber in ohren nicht erdulden können, bleibet also noch, wie im vorigen
Jahr referiret.“
) Die Orgel spielte während unserer Periode noch nicht die hervorragende Rolle, die
wir ihr heute geben. In Kappelnez. B. war zwar eine Orgel, ward aber nicht „geschlagen,
theils weil sie mangelhaft, theils weil die Leute zu unterhaltung eines Organisten nichts dar—⸗
reichen wollten“ (Fabr. 16039). So war denn auch das Organistengehalt in der
Regel sehr schmal, und die Musiker, die sich zu solchem Dienste bereit fanden, waren ge—
zwungen, als Schulmeister, Kirchspielsschreiber oder dal. einen Nebenverdienst zu suchen. In
der Passionszeit musite die Orgel ganz schweigen, ebenso bei fürstlichen Trauerfällen.
*) Geschichte der s.h. Gesangbücher. J. Teil: Die älteren Gesangbücher (bis 1771). Schrr.
Nr oq, 1010.
Feddersen, Kirchengeschichte, B. II.