Mängel des Armenwesens
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So finden wir also auch in der Zeit der Orthodoxie eine nicht ganz geringe
Liebestätigkeit. Es blieben jedoch auf diesem Gebiete manche Mißbräusche
und Uebelstände. So vor allem, daß die Gaben nicht immer den wirklich
Bedürftigen zugute kamen und das vom Mittelalter her ererbte Bettelwesen nicht
aufhörte. Zwar schritten die Landesobrigkeiten gelegentlich gegen unbefugtes Betteln
ein. So richtete der Amtmann von Steinburg, Detlev Rantzau, am 28. Mai
1020, an seine Kirchspielvögte ein Schreiben, nach welchem auf Königlichen
Befehl alle „umherstreichenden“ jungen Bettler von 7 bis 15, auch mehr oder
weniger Jahren, sowohl Knaben wie Mädchen in Verwahrung genommen und in
das „Zuchthaus“ (die Besserungsanstalt) zu Kopenhagen verbracht werden sollten
(Const. VIII., S. 61 f.)) Und am 23. Dez. 1022 (Const. VI., S. 63) erging
eine Gem. Verf., die besagte: Wirklich gebrechliche Arme sollen von der Gemeinde
mit dem Motdürftigen versorgt, ausheimische Bettler verjagt, gesunde einheimische
„angegriffen“, in Eisen geschlagen und jedes Ortes Obrigkeit sie zur Arbeit zu ge—
brauchen übergeben werden“. An vielen Orten gab es einen „Prachervogt“, einen
Polizeibeamten, der die nicht privilegierten, fremden Bettler verjagen sollte. Auf
der andern Seite aber beschützte derselbe Prachervogt die Ortsarmen, denen Betteln
gestattet war. So verordnet der Landvogt von MNorderdithmarschen 1035, daß er
zwar im Winter mit den Armen in Ordnung betteln gehen dürfe, wobei das gemein
sam Erbrachte an Brot und Geld zu verteilen sei, nach Ostern aber kein Vetteln
mehr dulden solle. Also weit entfernt davon, durch genügende Armenpflege das
Betteln der Ortsarmen überflüssig zu machen, wurde es als unvermeidliches Uebel
angesehen und s. z. s. obrigkeitlich organisiert. Doch scheinen nicht überall Pracher
vögte gewirkt zu haben. So in Südangeln. Fabr. berichtet 16359 von Tolk:
„Hausarme leiden Noth, während wählige Pracher, Kesselflicker und Löffelmacher
mit Weib und Kind überflüssig und übermütig umherlaufen und den Leuten nebst
Schimpf und Schande großen Schaden zufügen“. Ebenso von Mübel und
Satrup. Und während die Ortsarmen kaum das Dürftigste erhielten, wußten
vielfach betrügerische Bettler, die sich etwa als um ihres Glaubens willen ver—
triebene Prediger oder Schulmeister ausgaben, in das Vertrauen der Prediger ein—
zuschleichen und zogen mit einer schönen Gabe aus der Kirchenkasse von dannen.
Auch am Ende unserer Periode haben die Mängel der Armenpflege nicht auf—
gehört. Das erfahren wir aus der höchst bemerkenswerten Schrifr Aug. Gieses
über das „elende“ Almosenwesen seiner Zeit (vgl. oben S. 355, Anm. 51). Er
klagt über die Hartherzigkeit vieler „besseren“ Leute, deren Mildtätigkeit sich in
den in die Klingbeutel geworfenen Sechslingen und Dreilingen erschöpft und den
armen und kranken Nachbar ruhig in seiner Not liegen läßt; über die willkürliche
und ungeordnete Art, in welcher gutmütige Reiche ihre Almosen austeilen: so
kommt es, daß die „unverschämten“ Geiler mit dem Raube davonziehen, die ehren
haften, wirklich notleidenden Armen dagegen ohne Hilfe bleiben und trotz allem
auf das Betteln angewiesen sind. Was er befürwortet, ist eine sinnvolle, wirklich
helfende Versorgung der wahrhaft bedürftigen Ortsarmen und die Heranziehung
der noch Arbeitsfähigen zu nützlicher Arbeit (Flachsspinnen). Es währte über ein
Jahrhundert, ehe seine Vorschläge zur Tat wurden (Schaffung von Armenarbeits—
anstalten).
Spuren eines christ bichen Sozialismus begegnen uns während der
orthodoxen Periode (und auch weiterhin) noch kaum. Wohl finden wir bei einigen
Kirchenmännern freimütigen Tadel gewisser sozialer Mißstände, so wenn Fabr.
Feddersen, Kirchengeschichte, B. II. 373