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Volkes oder einer andern Menschengemeinschaft vorgegaukelt
haben; mögen uns (beispielshalber) köstlich amüsiert haben über
die elegante Art, wie Jean Finot die Mär vom französischen
„Esprit“ ins Reich der Fabel verweist und uns haarklein und
scharfsinnig auseinander setzt: es gäbe keine Franzosen, oder
Friedrich Hertz und die vielen andern: es gäbe keine
Juden: wenn wir dann wieder einmal über die Straße gehen und
die Augen aufschlagen, so rufen. wir plötzlich wohl ganz erstaunt
aus: sieh da, da steht er ja, den wir eben begraben haben; oder
ein Buch lesen oder ein Bild betrachten: so ertappen wir uns
plötzlich bei dem Gedanken: wie echt deutsch, wie kleinstädtisch,
wie französisch und sehen vor unsern geistigen. Augen diese ganz
besondere. Art von Menschen leibhaftig vor uns, die wir eben
mit tausend Gründen aus der Welt fortdiskutiert haben,
Ist das nur Spuk der Phantasie? .
Aber es ist‘ nicht nur das instinktive Gefühl, das uns an jenen
Bildern festhalten läßt: auch die nüchterne Überlegung führt uns
dazu, so etwas wie volkliche Eigenart in die Kette unserer kau-
salen‘ Betrachtung des .‚Menschenschicksals einzufügen. Ich
möchte sagen, daß alle sozialen Wissenschaften notwendig einer
solchen Hilfskonstruktion, wie die völkerpsychologische Hypo-
these, bedürfen, um in das bunte Durcheinander der Kinzel-
tatsachen Ordnung zu bringen; daß wir Kollektivseelen (man ver-
zeihe einstweilen das Wort, das ich gleich erklären werde) gleich-
sam als Substanz der sozialen Welt annehmen müssen, um auf
sie die tausendfältigen sonst in der Luft 'schwebenden Regungen
der Gesellschaft, um alle Massenerscheinungen, die doch der
Gegenstand unserer Untersuchung sind, auf sie zu, beziehen.
Die Hypostasierung einer kollektiven Psyche ist also für den
sozialen Theoretiker eine Denknotwendigkeit.
Um es an dem Beispiel zu verdeutlichen, das uns der Inhalt
dieses: Buches gewährt: wenn wir von einer jüdischen Religion
gesprochen haben, wen anders sollen wir uns als Träger denken
als das jüdische Volk, dessen Eigenart dieses eigenartige Ge-
bilde — die Formierung seiner religiösen Vorstellungen, — ‘bis
in alle Einzelheiten hinein. entspricht. . Hier ist. der Zusammen-
hang deutlich und auch dem ungeübten Auge wahrnehmbar.
Aber auch dort, wo wir die Einwirkungen der Juden auf
den Gang des Wirtschaftslebens aus „obiektiven‘ Umständen zu