Full text: Girondisten und Jakobiner

SAINT-JUST 
Saint-Just und Robespierre lebten in der Vertrautheit, die den Schüler oft mit dem Lehrer 
verbindet. Saint-Just, schon in die Zeiterregung gedrängt, verfolgte und überflügelte die 
Krisen der Revolution mit der kalten Unempfindlichkeit einer Logik, die das Herz trocken 
macht wie ein System und grausam wie einen abstrakten Begriff. Die Politik war in seinen 
Augen ein Kampf auf Leben und Tod, und die Besiegten waren Opfer. Er war gleichsam 
der Gedanke Robespierres, der ein paar Schritte vorauseilte. Er war stumm wie ein 
Orakel, sentenziös wie ein Axiom und schien jedes menschliche Gefühl abgelegt zu haben, 
um den kalten Verstand und den erbarmungslosen Impuls der Revolution in sich zu per- 
sonifizieren. Er hatte weder Blick noch Ohr noch Herz für die möglichen Hindernisse auf 
dem Weg zur Begründung einer universalen Republik. Was zwischen diesem Ziel und 
ihm angetroffen wurde: Könige, Throne, Blut, Frauen, Kinder, Volk — alles verschwand 
oder sollte verschwinden. Seine Leidenschaft hatte sein Inneres gleichsam versteinert, und 
seine Logik hatte die Mitleidslosigkeit der Geometrie und die Brutalität der materiellen 
Kraft. Er war es, der in den vertrauten und nächtlichen Besprechungen unter Duplays 
Dach Robespierres Seelenschwäche — wie er es nannte — und seinen Widerwillen be- 
kämpft hatte, das königliche Blut zu vergießen. Er stand unbeweglich auf der Rednerbühne, 
kalt wie eine Idee, mit langen blonden Haaren, die auf Hals und Schultern fielen, über 
seinen fast weiblichen Zügen die Ruhe der tiefsten und entschiedensten Überzeugung. Er 
wurde von seinen Bewunderern mit dem heiligen Johannes des Volksmessias verglichen, 
und der Konvent betrachtete ihn unruhig und wie von einem jener Wesen verzaubert, 
die auf der schwanken Grenze des Wahnsinns und des Genies stehen. Saint-Just, nur an 
Robespierres Schritte gefesselt, verkehrte wenig mit den andern. Er verließ seinen Platz 
im Konvent und erschien wie ein Vorläufer von seines Herrn Meinung. War seine Rede 
beendet, so trat er schweigsam und ungreifbar zurück, nicht wie ein Mensch, sondern wie 
eine Stimme. 
Am 2. September, abends elf Uhr am Vorabend der Septembermorde von 1792, gingen Saint- 
Just und Robespierre gemeinsam von den Jakobinern fort, gequält durch die körperlichen 
und geistigen Mühsale eines Tages, den sie ganz im Tumult der Beratungen verbracht 
hatten und der mit einer schrecklichen Nacht schwanger ging. Saint-Just bewohnte ein 
kleines Zimmer in einem Hötel garni der Rue Sainte-Anne, nicht weit vom Hause des 
Tischlers Duplay, in dem Robespierre logierte. Die beiden Freunde besprachen die Er- 
eignisse des vergangenen und die Drohungen des kommenden Tages und kamen vor die 
Haustür Saint-Justs. Robespierre, in seine Gedanken ganz vertieft, begleitete ihn in sein 
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