Kassandra
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immer hat es bei ihm seine volle Bedeutung „göttlich, gottvoll,
von Gott gesandt‘, nur selten die auch sonst geläufige „gesteigert,
gewaltig‘. Hier erfüllt das Wort die gleiche Funktion wie P. 4, 11
das Epitheton „unsterblich‘‘ äßaydtov otduatTos (vgl. S. 28), wenn
unsere Deutung richtig ist. Medeia und Kassandra sind, wörtlich
genommen, nicht „göttlich“. Aber ihre Inspiration erhebt sie über
die sterbliche Mitwelt.
Das Herz begann zu sprechen „unter unheilvollen Seufzern“‘,
Verhalten ist der Schmerz der pindarischen Frauen (vgl. S. 78f.).
Kassandra hätte Grund, laut aufzuschreien, zu jammern, die Hände
zu ringen und die Haare zu raufen. öloaioı otovayalc bleibt die
einzige Äußerung von Pathos. Von der aischyleischen Kassandra
mit der großen tragischen Geste, die der Chor ggevouayYs und
PeogpdonNTOS nennt (Ag. 1140), ist die pindarische gleich weit entfernt
wie von der homerischen, die jammert, als Hektors Leiche aus der
Schlacht getragen wird, Il. 24, 703 x@xu0& t7 äp’ Eneita yEwWvE
ze xäy xata äotv. Pindars Kassandra erscheint uns eher als heilige,
erhabene Prophetin. Die Heldin der Schillerschen Ballade steht
ihr viel näher als der tragischen Kassandra. Lohnend wäre gewiß
auch ein Vergleich mit jenem nicht erhaltenen Gedicht des Bakchy-
Jides gewesen, in dem er Kassandra über den trojanischen Krieg
weissagen ließ (Porphyr. zu Horaz c. 1, 15).
Der Inhalt von Kassandras Worten entspricht dem eben ge-
zeichneten Bilde der Prophetin. Das Geschehen wird ihr bewußt.
Sie sieht den Untergang nahen und versucht nicht, sich dagegen
aufzulehnen. Sie erschrickt nicht einmal davor, sondern mit leiden-
schaftslosen Worten ergibt sie sich darein: „Allmächtiger, allüber-
schauender Kronion, jetzt vollendest du das längst verhängte
Leid“. Auch aus den Worten entnehmen wir keine Gebärde des
Schmerzes, Soweit der Paian erhalten ist, bekommen wir kein
leibhaftiges Bild der Prophetin. Die Einleitungsworte lassen vor
uns keine Gestalt im gewöhnlichen Sinne erstehen, sondern ver-
setzen uns in die Stimmung einer verhängnisvollen Stunde. Was
von Kassandra erwähnt wird, sind unsinnliche Züge. Diese Fest-
stellung rückt sie mit der prophezeienden Medeia eng zusammen.
Die sublimen Worte hier wie dort zeigen, wie lieb Pindar diese
Frauenbilder sind. Der Dichter Apollons wendet an die ihm ver-
wandten Seherinnen alle Kunst seiner Sprache. Die chorlyrische
Strenge und Wortkargheit darf nicht darüber täuschen, daß Pindar
innerlich mit Medeia jubelt‘ und mit Kassandra leidet.