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haupt alle Gesellschaftswissenschaften; es konsolidiert sich die
Soziologie als Inbegriff und Zusammenfassung aller dieser Spezial
versuche, als Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft und
ihrer Entwicklung. Gleichzeitig findet eine wissenschaftliche Ver
tiefung der Politik statt.
Die Deutschen standen im Vordergründe dieser theoretischen
und praktischen Bestrebungen; Geschichtsphilosophie, mit Herder
beginnend, und mit ihr die Geschichte, werden förmlich zu
Nationalfächern; die deutsche Philosophie nach Kant ist der
Hauptsache nach historisch (Fichte, Schelling, Hegel usw.) Der
Sozialismus und insbesondere der Marxismus, mit ihrer fest aus
geprägten Geschichtsphilosophie, sind historisch kat’ exochen; der
Evolutionismus (Darwinismus) stärkt diesen eigentümlichen
Historismus. Die Deutschen ragen auch in allen speziellen Ge
sellschaftswissenschaften hervor, in der Ökonomik und insbe
sondere in den Staatswissenschaften und im Rechtsstudium.
Nicht bloß die Gesellschaftswissenschaften, auch die Natur
wissenschaften widmen sich dem Studium des Zustandes des
deutschen Volkes. Die Biologie zum Beispiel grübelt über richtige
und billige Ernährung des Individuums und der Masse nach, über
die Bedingungen der Kraft und der Gesundheit des Volkes; die
Chemie dient demselben Ziele und erstrebt, die materielle Grund
lage des nationalen Seins zu vervollkommnen.
Auf diesem breiten wissenschaftlichen und philosophischen
Untergrund hat sich in der letzten Zeit der Pangermanismus als
Philosophie und Politik der Deutschen organisiert. Lagarde ist
sein führender philosophischer und theologischer Wortführer,
Treitschke sein Historiker, Kaiser Wilhelm sein Politiker. Ein
ganzes System des theoretischen und praktischen Pangermanismus
hat sich organisiert: Vereine und Gesellschaften, welche die
Lehre durch Verbreitung von Schriften, Landkarten, Zeitschriften
und Revuen, Flugblättern usw. propagieren.
Ich habe diese Bewegung aufmerksam verfolgt und kam
in persönlichen und schriftlichen Verkehr mit einigen bedeuten
den Pangermanisten, mit Constantin Frantz und Lagarde selbst;
die Kenntnis des Pangermanismus, sowohl als Bewegung als auch
Literatur, führte mich dazu, diesen Krieg zu erwarten. Es wunderte
mich, wie wenig die Engländer und Franzosen vom Pangermanis
mus Notiz nahmen; meine Landsleute habe ich auf die drohende
Gefahr durch Aufsätze und Vorträge aufmerksam gemacht. Ich 1