Full text: Das neue Europa: der slavische Standpunkt

40 
wären dieselben (wie z. B. wir Tschechen) nicht von anderen 
Nationen umzingelt, als hätten dieselben nicht ihre Brotsorgen 
— nein, entweder Kant oder Bismarck, entweder Schiller oder 
Wilhelm, entweder Lessing oder Bernhardi! Zar Wilhelm beruft 
sich auf Gott, erklärt sich selbst für ein Instrument Gottes —• 
auf Jesus beruft er sich allerdings nicht — aber dieser preußische 
Jahve ist in Wirklichkeit die politische Macht der vom Staate an 
erkannten und privilegierten Kirche, welche dem Zaren und seinem 
Staate in jedem Dorfe den Pastor als Gottes Gendarm beistellt. 
Es wurde bereits gesagt, daß die europäischen Staaten bisher 
theokratische Staaten sind; darum steht die Demokratie überall 
gegen die Staaten und die Kirchen: Die Demokratie ist mensch 
lichen, nicht göttlichen Ursprungs, wie ihn die Theokratie für 
sich in Anspruch nimmt, hat ihre Fundierung in der Sittlichkeit, 
nicht in der offiziellen Religion. Nur soweit die Sittlichkeit — 
die Liebe zum Nächsten — von der wahren, reinen, unpolitischen 
Religion geheiligt wird, anerkennt auch die Demokratie eine 
Politik sub specie aeternitatis. Eine solche Politik ist auf Grund 
lage der Lehre Jesu und seiner beiden Gebote und nur auf dieser 
Grundlage möglich. 1 ) 
8 . 
Das Problem der kleinen Nationen und Staaten; 
Föderation der kleinen Nationen. 
16. Der Begriff Großmacht und seine Bedeutung hat in 
der letzten Zeit eine einschneidende Änderung erfahren; man 
zählt jetzt weniger Großmächte, die alten treten zurück, neue 
treten auf die Bildfläche. Der Maßstab der Größe ist infolge 
des Anwachsens der Bevölkerungszahl etwas Relatives geworden. 
Die Pangermanen anerkennen nur drei, höchstens vier Groß 
mächte in Europa — Deutschland, Rußland, England und etwa 
noch Frankreich; manche anerkennen Frankreich nicht mehr als 
Großmacht. Und diejenigen, die die erwähnten, durch die Natur 
gegebenen Schwächen Rußlands betonen (Mißverhältnis der Be 
völkerung zum großen Territorium usw.), sprechen nur von zwei 
*) Die grundlegende Anschauung über den historischen Gegensatz 
der Demokratie und der Theokratie ist ausführlicher in meiner Schrift 
über Rußland dargelegt. (Rußland und Europa. Studien über die geistigen 
Strömungen in Rußland. Erste Folge, I. u. II. Band. Jena, Diederichs, 
1913.)
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.