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wären dieselben (wie z. B. wir Tschechen) nicht von anderen
Nationen umzingelt, als hätten dieselben nicht ihre Brotsorgen
— nein, entweder Kant oder Bismarck, entweder Schiller oder
Wilhelm, entweder Lessing oder Bernhardi! Zar Wilhelm beruft
sich auf Gott, erklärt sich selbst für ein Instrument Gottes —•
auf Jesus beruft er sich allerdings nicht — aber dieser preußische
Jahve ist in Wirklichkeit die politische Macht der vom Staate an
erkannten und privilegierten Kirche, welche dem Zaren und seinem
Staate in jedem Dorfe den Pastor als Gottes Gendarm beistellt.
Es wurde bereits gesagt, daß die europäischen Staaten bisher
theokratische Staaten sind; darum steht die Demokratie überall
gegen die Staaten und die Kirchen: Die Demokratie ist mensch
lichen, nicht göttlichen Ursprungs, wie ihn die Theokratie für
sich in Anspruch nimmt, hat ihre Fundierung in der Sittlichkeit,
nicht in der offiziellen Religion. Nur soweit die Sittlichkeit —
die Liebe zum Nächsten — von der wahren, reinen, unpolitischen
Religion geheiligt wird, anerkennt auch die Demokratie eine
Politik sub specie aeternitatis. Eine solche Politik ist auf Grund
lage der Lehre Jesu und seiner beiden Gebote und nur auf dieser
Grundlage möglich. 1 )
8 .
Das Problem der kleinen Nationen und Staaten;
Föderation der kleinen Nationen.
16. Der Begriff Großmacht und seine Bedeutung hat in
der letzten Zeit eine einschneidende Änderung erfahren; man
zählt jetzt weniger Großmächte, die alten treten zurück, neue
treten auf die Bildfläche. Der Maßstab der Größe ist infolge
des Anwachsens der Bevölkerungszahl etwas Relatives geworden.
Die Pangermanen anerkennen nur drei, höchstens vier Groß
mächte in Europa — Deutschland, Rußland, England und etwa
noch Frankreich; manche anerkennen Frankreich nicht mehr als
Großmacht. Und diejenigen, die die erwähnten, durch die Natur
gegebenen Schwächen Rußlands betonen (Mißverhältnis der Be
völkerung zum großen Territorium usw.), sprechen nur von zwei
*) Die grundlegende Anschauung über den historischen Gegensatz
der Demokratie und der Theokratie ist ausführlicher in meiner Schrift
über Rußland dargelegt. (Rußland und Europa. Studien über die geistigen
Strömungen in Rußland. Erste Folge, I. u. II. Band. Jena, Diederichs,
1913.)