Full text: Das neue Europa: der slavische Standpunkt

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auszuarten drohten, durch gütlichen Vergleich geschlichtet wurden 
(Marokko u. a.) Noch 1914, kurz vor dem Kriege, hat sich 
Deutschland mit England und den anderen Kolonialstaaten in 
einer ihm recht vorteilhaften Weise geeinigt; warum ist es also 
jetzt so plötzlich zum Kriege gekommen? Der Industrialismus 
und Kapitalismus genügen nicht, um diese Tatsache zu erklären. 
Was den Imperialismus betrifft, so wurde schon darauf aufmerksam 
gemacht, daß man diesen Begriff oft recht unklar verwendet; der 
deutsche Imperialismus spielt im Kriege gewiß eine entscheidende 
Rolle, aber es ist kein kapitalistischer und industrieller Imperialis 
mus, denn er ist viel früher entstanden als Deutschland sich 
kapitalistisch organisiert und industrialisiert hat. 
Was den kolonialen Imperialismus betrifft, so genügt es, 
darauf hinzuweisen, daß auch die Annexion der Kolonien viel 
altern Datums ist als der moderne Industrialismus und Kapitalis 
mus; außerdem läßt sich sehr leicht erweisen, daß der Besitz der 
Kolonien nicht bloß aus kapitalistischen und industriellen Beweg 
gründen angestrebt wurde. Noch jetzt zur Zeit des Krieges suchen 
deutsche Volkswirtschaftler und Politiker nachzuweisen, daß die 
Kolonien sich nicht rentieren, daß Deutschland draufzahle; und 
eine vergleichende amtliche Statistik lehrt, daß Deutschland nach 
England viel mehr (40 mal soviel) ausgeführt und viel mehr 
aus England für seine Industrie eingeführt hat als aus den Ko 
lonien. Die Marxisten pflegen von den Kaufleuten und den 
Kapitalisten zu sagen, sie seien ausgezeichnete Rechner und 
schreiben ihnen oft unmilitärischen Geist zu — aber siehe da, 
plötzlich sind diese Kaufleute so kriegerisch und dabei auch 
gewaltige Dummköpfe! 
Die angeführten Schlagworte der marxistischen Auslegung 
des Krieges sind zu einseitig und simplistisch, wie der ganze 
ökonomische Materialismus und seine Geschichtsphilosophie, und 
darum ist die offizielle marxistische Philosophie dieses Krieges 
ungenügend. 
Niemand wird behaupten, daß wirtschaftliche Interessen in 
diesem Kriege keine Rolle spielen. Wir haben doch den Pan- 
germanismus kennen gelernt und wissen, wie seine Führer für 
Deutschland die Notwendigkeit an Boden, Rohstoffen, billigen 
Arbeitskräften usw. betonen. Wohl jeder Krieg dürfte auch durch 
Geiz und Begierde nach irdischen Gütern hervorgerufen worden 
sein („bona terra, mali vicini“ las ich einmal in einer mittel
	        
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