Full text: Das neue Europa: der slavische Standpunkt

gramm ergab sieb in einem so zentralisierten Lande, das ein 
geradezu elementares Bedürfnis nach Autonomisation verspürt, 
von selbst. Im Westen, welch eine Mannigfaltigkeit und Buntheit 
von selbständigen Sprachen, Nationen und Staaten, obwohl der 
Westen nicht einmal doppelt soviel Bewohner zählt als Rußland; 
im zaristischen Rußland — welch eine Eintönigkeit der Verwaltung! 
Und doch ist nicht einmal der Westen schon hinreichend auto- 
nomisiert, auch im Westen drückt noch die Zentralisation das 
natürliche Streben nach Individualisation und Autonomisation 
nieder; daher das Streben der verschiedenen Nationen nach Selb 
ständigkeit und daher auch dieser Krieg. Auch Rußland besitzt 
eine von der Natur und Geschichte gegebene Mannigfaltigkeit 
kultureller Kräfte und Gebietsteile, aber der Zarismus hat es 
nicht verstanden, diese Kräfte zu wecken und zu organisieren und 
darum ist er so elendiglich in sich selbst zusammengestürzt und 
verschwunden, und darum ist auch die Revolution bis jetzt so 
negativ, wenig konstruktiv: der Zarismus hat die Russen zur 
administrativen Arbeit nicht vorbereitet. 
ln nationaler Beziehung ist Rußland ein ganz eigenartiges 
Gebilde, das aus vielen Nationen zusammengesetzt ist; ein deut 
scher baltischer Schriftsteller hat unter dem Namen Inorodetz un 
längst in Paris eine Schrift veröffentlicht, in welcher er in Rußland 
an hundertelf Nationen aufzählt. Seine Tendenz geht, sowie die 
aller Pangermanen, dahin, die Vielsprachigkeit Rußlands zu be 
tonen und dadurch die nationale Buntheit Österreich-Ungarns und 
Preußens in Schutz zu nehmen. Aber zwischen Rußland einerseits 
und Österreich-Ungarn und Preußen anderseits besteht in natio 
naler Hinsicht ein großer Unterschied. Die Mehrzahl der Nationen 
in Rußland ist unkultiviert, und ihr Nationalbewußtsein ist nur sehr 
wenig entwickelt; und man kann sagen, daß die Russen selbst noch 
nicht auf dem nationalen Standpunkt stehen; die große Masse ist 
religiös, kirchlich orientiert, und die Intelligenz, soweit sie so 
zialistisch ist, empfindet auch nicht national. Darum wollen die 
Russen das Programm des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen 
auch auf ihre eigene Nation und deren verschiedene Teile an 
gewendet sehen; daraus erklärt sich das Entstehen der ver 
schiedenen Republiken, (eigentlich Kommunen). Und darum ist 
die Art, wie die nationalen und sprachlichen Fragen in Rußland 
zu lösen wären, von der für Europa angezeigten Methode 
verschieden. 
6 Das neue Europa. 
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