Full text: Gesammelte Schriften (3)

Herren auf dieser Erde wären und ihre Beziehungen demnach die Ge 
schichte der Menschheit ausfüllten. 
Doch ich brauche mich wahrlich nicht in so weite Fernen zu verlieren, 
um den Versuch einer Gegenüberstellung der beiden Bolkscharaktere vor 
weiteren Kreisen zu rechtfertigen. Die Gegenwart mit ihren mannigfaltigen 
Verknüpfungen und Verschlingungen der Geschicke beider Nationen kann 
des Hinweises auf die Vergangenheit und eine heraufziehende Zukunft 
billigerweise entbehren. 
Bei der Vergleichung von Individuen und Nationen pflegt man in erster 
Linie ihre Temperamentseigentümlichkeit als das Bedeutsamste neben 
einanderzustellen. Meiner Ansicht nach mit Unrecht. Freilich ist sie das 
zunächst in die Augen Springende; aber den eigentlichen Kern der Indi 
vidualität erfaßt man auf diese Weise nicht, und meistens bleibt man dabei 
auf der Oberfläche überhaupt stehen. Es ist allerdings richtig, daß dem 
Engländertum gegenüber dem Deutschtum ein stärkeres Phlegma eigen 
tümlich ist. Indes entspringt diese Temperamentsverschiedenheit schon aus 
der verschiedenen Färbung des Grundcharakters und kommt deshalb über 
die Bedeutung des Symptoms nicht hinaus. 
Wenn ich alle meine Einzelbeobachtungen über englisches und deutsches 
Wesen zusammenfasse, so glaube ich die Verschiedenheit der beiden Völker 
nunmehr mit folgender kürzester Formel bestimmen zu können: Der Kern 
punkt in dem Verhältnis zwischen Wille und Vorstellung liegt beim Eng 
ländertum ein wenig stärker auf der Willens-, beim Deutschtum ein wenig 
stärker auf der Vorstellungsseite. 
Ich werde gleich den induktiven Beweis für diese Behauptung antreten; 
zunächst aber muß ich kurz erklären, wie ich dies meine. 
Welcher Metaphysik man auch anhängt, man wird nicht bestreiten 
können, daß die beiden letzten Äußerungen unseres Seelenlebens in Wollen 
und Vorstellen bestehen. Das Verhältnis dieser beiden Grundkräfte zuein 
ander bestimmt zum guten Teil die innerste Eigenart des Individuums. 
Der Wille recht eigentlich ist das Beständige im Ich, sozusagen seine 
Grundlage, der Intellekt dagegen das ewig Bewegliche, das den Willen 
fortwährend zu seinen Äußerungen bestimmt. Beide zusammen erschöpfen 
den Begriff des Ichs, an dem sie eben nur zwei Wesensäußerungen sind. 
Es wird sich nun folgendes große charakterologische Grundgesetz auf 
stellen lassen: Stabilität des Willens und Beweglichkeit des Denkens stehen 
im entgegengesetzten Verhältnis. Wächst die Stabilität oder Richtungs
	        
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