Nationalismus und Kosmopolitismus
(1886)
Die Geschichte vollzieht ihre Fortbewegung in Wellenform. Wer seinen
Blick nicht zu erheben vermag über die Zeiträume der einzelnen Jahr
hunderte, der mag wohl zu der Verzweiflung an einem einheitlichen Ent
wicklungsprozeß der Menschheit überhaupt gelangen können. Denn schein
bar regelmäßig bilden den Abschluß langer Geschichtsepochen jene vul
kanischen Völkcrkatastrophen, welche die Resultate gewaltiger Kulturarbeit
oft, wie eö scheint, unwiederbringlich mit dem Leichentuch ihrer Lavamasse
bedecken. Der in seinen Dimensionen geradezu dramatische Zusammenbruch
der antiken Kulturwelt ist nicht die einzige Katastrophe dieser Art gewesen.
Im Rahmen einer einzelnen Nation steht ihm die Zertrümmerung der
deutschen Kultur im 17. Jahrhundert ebenbürtig zur Seite.
Nur wer imstande ist, das Allgemeine im einzelnen zu erkennen, wird
aus diesem unausgesetzten Auf und Nieder den roten Faden einer trotz aller
Vernichtung stetig und einheitlich fortschreitenden geschichtlichen Entfaltung
aufzuheben vermögen. Wie überall, so arbeitet die Natur auch in der
Menschheitöentwicklung nach großen und allgemeinen Gesetzen und wie
überall, so wird auch hier gewissermaßen aus dem Unendlichen geschöpft.
Scheinbare Rückläufe von Jahrhunderten sind unwesentlich gegenüber den
gewaltigen Zeitdimensionen, mit denen das Leben unseres Planeten ge
messen sein will, und wenn die Geschichte gewisse Gestaltungen, zum Bei
spiel die der antiken Kultur, scheinbar auf Jahrhunderte stagniert oder
gar begräbt, so geschieht dies doch nur, um ihre Resultate nachträglich
wieder in den allgemeinen Entwicklungöstrom überzuleiten, diesen selbst
aber stetig zu vertiefen und zu erweitern.
Äußerst interessant gerade nach dieser Seite hin ist unser eigenes Jahr
hundert. Daß die Geschichte nicht willkürlich arbeitet, mußte dem um
sichtigen Beobachter schon aus der Verschmelzung klarwerden, durch
welche zu Beginn der Neuzeit die Resultate der klassischen Kultur mit den
bahnbrechenden Ideen des Christentums verbunden wurden. Denn da
wurde ja mit einmal klar, daß die antike Welt nicht nur für den Untergang
gearbeitet hatte. Im 19. Jahrhundert aber können wir das vielleicht nicht
minder großartige Schauspiel gewissermaßen vor unseren eigenen Augen
sich abspielen sehen, wie der uralte mongolische Kulturstrom in den christ
lich-europäischen sich ergießt und als dritter Faktor die mystische Kultur