Full text: Gesammelte Schriften (3)

Deutschland und England II 
(1902) 
Der Besuch des Kaisers in England hat die Aufmerksamkeit der 
politischen Welt mit erhöhter Lebhaftigkeit auf die Beziehungen zwischen 
dem Deutschen Reich und Großbritannien gerichtet. Denn wenn diesem 
Besuch offiziell auch jede politische Bedeutung abgestritten wird, so hat 
solche persönliche Begegnung zwischen den Monarchen zweier Staaten ersten 
Ranges doch immer und überall eine weit über das Persönliche hinaus 
reichende Tragweite. Zwar hat der König von England kein direktes Ent 
scheidungsrecht in politischen Fragen, aber was ihm an konstitutioneller 
Macht abgeht, ersetzt er durch sozialen Einfluß; und die Krone von Eng 
land bleibt unter allen Umständen ein Faktor, mit welchem die große 
Politik ernstlich zu rechnen hat. Hier in England entscheiden letzten Endes 
die Stimmungen und Überzeugungen der gebildeten Mittelklassen über den 
Gang der Dinge. Aber eö läßt sich nicht leugnen, daß der Besuch des 
Kaisers immer noch sehr entschieden auf diese Stimmungen eingewirkt hat. 
Indes leben wir in einer Epoche der Realpolitik, und die Interessen der 
Völker geben den Ausschlag. Die Untersuchung nach den Beziehungen 
zweier großer Nationen wie der deutschen und englischen muß demnach 
die natürliche Jnteressengrundlage der beiden Völker zu ihrem Ausgangs 
punkt nehmen. 
Deutschland ist eine im wesentlichen kontinentale Macht; es ist die mittel 
europäische Großmacht schlechtweg. „Seine Zukunft liegt über See." Das 
mag sein; aber seine Gegenwart beruht immer noch auf seiner kontinen 
talen Eigenart. Der Staatsmann nun hat mit der Gegenwart zu rechnen, 
ohne freilich die Zukunft aus den Augen zu verlieren. 
Auf dem Kontinent ist das Deutsche Reich flankiert von den beiden 
Großmächten des Jweibundes, zu denen sich im Fall eines Krieges voraus 
sichtlich Dänemark im Norden schlagen würde. Der „Krieg mit zwei 
Fronten" ist seit Jahrzehnten als Möglichkeit in Rechnung gestellt worden 
und hat bei den Beratungen unserer Militärbudgets schon lange ein Rolle 
gespielt. Zwar besteht der Dreibund fort, aber ein verantwortlicher Staats 
mann wird sich doch sehr ernstlich die Frage vorlegen, wie weit wir im 
Falle eines Kampfes auf Leben und Tod praktisch auf ihn rechnen dürfen. 
Es balanciert also Deutschland mit Österreich gegen den Zweibund; und 
hier liegt der Punkt, wo die britische Politik von brennendem Interesse für
	        
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