Der Ostasiatische Krieg und Europa
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UM zu ermessen, welchen Ursachen das heutige China seine Eigenart ver
dankt. Dauernder Friede, nur unterbrochen durch Dynastiewechsel wie
im kaiserlichen Rom, eine auf einseitiger Gelehrsamkeit begründete
Zivilisation, wie sie der Römerwelt von Alexandrien her drohte, und ein
materieller Lebensgenuß ohne Gemüt und Phantasie! Daran ist dieses
Staatöwesen vertrocknet. Aber seine nationale Kraft ist nicht erstorben;
noch steht die Familie mit ihren tiefen Wurzeln heilig und fest im Mittel
punkt des chinesischen Volkslebens; noch immer quillt überströmend der
Überschuß der Geburten; dies ist anders als in Rom, und unter richtiger
Führung kann aus diesem Untergrund auch wieder neues gesundes Leben
sich gestalten. Wie, wenn Japan diese Führung suchte, und China durch
die Erfahrungen der letzten Jahre belehrt, sie nunmehr annähme? Dann
stünden wir mit einem Schlage einer ganz neuen Weltlage gegenüber.
Denn China hat, was Japan fehlt: die weiten Räume und die gewaltigen
Massen.
Man spottet in der englischen Presse über die Heraufbeschwörung der
„gelben Gefahr", wie sie in kontinentalen Zeitungen betrieben werde, um
Propaganda für Rußland zu machen; und in der Tat, wenn man unter
der „gelben Gefahr" eine Bedrohung Europas versteht, wie Attila und
Dschingis'Chan sie ins Werk setzten, so ist der Spott berechtigt. Denn auch
ein vereinigtes Japan mit einem neugeborenen China würde nicht imstande
sein, über das moderne Europa herzufallen. Aber wenn man unter dieser
mongolischen Gefahr die Bedrohung der gegenwärtigen Weltstellung
Europas versteht, so ist sie allerdings sehr real. Denn es ist klar, daß,
wenn China den Bahnen Japans folgt, es zunächst und sehr bald völlig
zu Ende sein wird mit der europäischen Vormundschaft im „Fernen Osten".
Sowohl Kiautschau wie Hongkong würden wohl nicht lange mehr unter
dem Schutz europäischer Flaggen bleiben, wenn China sich militärisch
organisierte. „Asien für die Asiaten" wäre das Feldgeschrci, welches prak
tische Bedeutung gewinnen würde, und cö könnte sehr wohl sein, daß Groß
britannien, welches sich heute noch schmunzelnd die Hände reibt über die
Niederlagen des russischen Konkurrenten, alsbald auch in Ostindien etwas
von dem Wellenschlag dieser gelben Flut zu verspüren bekäme, deren erstes
Rühren sich vor unseren Augen so energisch offenbart. Somit stehen wir
hier unbegrenzten Möglichkeiten gegenüber.
Doch ich darf mich nicht zu sehr ins Weite verlieren. Noch steht die
Armee Kuropatkins ungebrochen in Mukden, und wie gesagt, erst ihr