Die britische Orientpolitik
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Bor dreißig Jahren fand in Berlin unter dem Vorsitz des Fürsten Bis
marck der Kongreß statt, durch welchen die Gegensätze im Nahen Osten
nach dem Frieden von St. Stephano^ ihren internationalen Ausgleich
fanden. Damals trat der Deutsche Reichskanzler als „ehrlicher Makler"
unter den widerstrebenden Mächten auf; und insbesondere vermittelte er
zwischen Großbritannien und Rußland. Heute weilt der russische Minister
des Äußeren in London und sucht ein direktes Einvernehmen mit der
Regierung König Eduards VH. Zwischen London und Paris reist
M. Jswolski^ hin und her, um in der westöstlichen Tripel-Entente den
Nukleus 3 einer internationalen Verständigung zu schaffen. Die Vertreter
„anderer Mächte", Deutschlands, Italiens, Griechenlands, werden hier
und da hinzugezogen; die Entscheidung aber liegt in dem Einvernehmen der
Westmächte mit dem Slawenstaat im Osten. Der Unterschied zwischen
1878 und 1908 in der Behandlung der Orientfrage ist vielleicht nicht
typisch, aber er ist illustrativ für das Schwergewicht der europäischen
Balance. Es liegt nicht mehr in Berlin, sondern vielmehr in London.
Die materielle Bedeutung der jüngsten Krisis um den Balkan hat für
das Türkische Reich von der Goltz-Pascha* vor kurzem im „Tag" in sehr
klarer und nüchterner Weise dargelegt. Es ist sehr wahr, daß die Türkei
durch die Vorgänge in Bulgarien und in Bosnien und der Herzegowina
nicht eigentlich irgend etwas verloren hat, was es noch besaß. Aber es
bleibt doch nicht weniger wahr, daß diese Amputationen einen ungeheuren
moralischen Schlag für das neue Regime in Konstantinopel darstellen.
Denn die jungtürkische Bewegung hatte gehofft, durch die Schaffung eines
auf Gleichberechtigung der Rassen basierten modernen Großstaateö um
gekehrt verlorengegangene Teile des alten Reichs von neuem an sich zu
ziehen. Nun muß sie zu Beginn ihrer Ara es erleben, daß im Norden und
Nordwesten über türkische Hoheitsrechte wie über eine Quantite nögli- 1 2 3 4
1 In St. Stefano (nahe Konstantinopel) wurde am 3.März 1878 der Vorfriede im
Russisch-Türkischen Krieg geschlossen, dem später auf dem Berliner Kongreß unter Bismarck
der endgültige Berliner Vertrag folgte.
2 Alexander Iswolski (18 S 6—1919), von 1906 bis 1910 russischer Außenminister und
von 1910 bis 1917 Botschafter in Paris.
3 „ Kern u .
4 Colmar Frh. von der Goltz-Pascha (1843—1916), preußischer Generalfeldmarschall,
hat 1883—189S und 1911 den Aufbau der türkischen Armee durchgeführt.
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