II. Begriffliches Verhältnis zur Aufrechnung. 427
Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts kann durch Sicher-
heitsleistung abgewandt werden, auch wenn die Ausübung schon be-
gonnen hat; sie wird dann für die Folge sistiert, während die durch
Aufrechnung einmal erloschenen Schulden nicht wieder entzündet, d. h.
ins: Leben gerufen werden können. Demgemäfs ist auch das
richterliche Urteil bei Kompensation und Retention verschieden. Wer
aufserprozessual aufgerechnet hat und sich im Prozefs hierauf beruft,
oder wer im Prozels aufrechnet, der wird, falls jene Berufung be-
gründet oder diese Aufrechnungserklärung zulässig ist, wegen der
Aufrechnung freigesprochen, sei es gänzlich, sei es teilweise, —
letzteres wenn und soweit seine Gegenforderung. (wie er sie hatte oder
geltend machte) die eingeklagte Forderung nicht deckt. Wer dagegen
das Zurückbehaltungsrecht geltend macht, wird verurteilt, und
zwar in vollem Mals; nur nicht schlechthin, sondern zur Leistung
gegen Empfang der ihm gebührenden Leistung.
Da es sich bei‘ der Aufrechnung um die viel eingreifendere
Wirkung des Erlöschens von Schulden handelt, so kommt es auf
das Gröfsenverhältnis der aufzurechnenden Schulden oder For-
derungen an. Sie erlöschen, „soweit sie sich decken“ (BGB. 8 389).
Bei der Retention hingegen, wo kein Erlöschen, sondern nur ein
Aufschub in Frage steht, kommt es auf das Gröfsenverhältnis der
„geschuldeten Leistung“ und der ihrem Schuldner „gebührenden
Leistung“ ganz und gar nicht an*. Wenn einer überhaupt retinieren
darf, darf er in beliebigem Umfang retinieren. Wenn also die
retinierbare Leistung, wie die uns hier angehende Vergütung des
Arbeitgebers, teilbar ist, so kann er ohne Rücksicht auf das Wert-
verhältnis der zwei in Frage kommenden Leistungen die Vergütung
sowohl ganz als zu irgend einem Teile zurückbehalten. Wer „die
geschuldete Leistung“ verweigern kann, kann sie auch teilweise ver-
weigern, demnach auch teilweise machen. Der Arbeitgeber, welcher
ı Wenigstens stellt der das Zurückbehaltungsrecht regelnde $ 278 BGB.
kein Erfordernis hinsichtlich dieses Gröfsenverhältnisses auf, auch nicht in
den Worten „sofern nicht aus dem Schuldverhältnis sich ein anderes ergiebt“.
Wenn aber für den Fall, da Leistung und Gegenleistung aus gegenseitigem
Vertrag einander gegenüberstehen ($ 320 Abs. 2), die Verweigerung der einen
dadurch bedingt ist, dafs diese Weigerung nicht „wegen unverhältnismäfsiger
Geringfügigkeit des rückständigen Teiles“ der anderen gegen Treu und
Glauben verstöfst (vgl. S. 373. 374), so wird es auf Analoges auch bei unserem
Zurückbehaltungsrecht ankommen. Oder sollte die Bezahlung des vierzehn-
tägigen Lohnes verweigert werden können bis zur Rückgabe eines in
Händen des Arbeitnehmers befindlichen Hammers, dessen Wert nicht einen
halben Tagelohn ausmacht?