Full text: Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches (1)

794 VI. Abschn. Tarifvertrag. 3. Kap.: Geltungsbereich. 
müssen, nicht eine Rechtsquelle, sondern ein Rechtsgeschäft. Sein 
Fortbestand ist nicht, wie der einer Rechtsquelle, eines Gesetzes, von 
seinen Urhebern unabhängig. Ein Vertrag kann nicht fortexistieren 
d. h. die von ihm kommende Rechtswirkung nicht ferner ausüben, 
wenn eine Partei gänzlich verschwunden ist. Es brauchen nicht die 
ursprünglichen Kontrahenten sich erhalten zu haben oder die Koalitionen 
und Organisationen, denen die Arbeitgeber oder Arbeitnehmer an- 
gehörten, als der Tarifvertrag in ihrem Namen geschlossen wurde!. 
Aber wenn entweder auf der Arbeitgeber- oder auf der Arbeitnehmer- 
seite niemand mehr da ist, der rechtmäfsig auf der Einhaltung der 
Tarifvertragsbedingungen bestehen kann, dann ist der tarifvertrags- 
widrige Arbeitsvertrag selbst gültig geworden, hat der Tarifvertrag 
als solcher seine Gültigkeit verloren. Dafs er noch fortwirken kann 
in Gestalt einer Üsance, eines Geschäftsgebrauchs, indem sich manche 
seiner Satzungen eingebürgert haben*, wird damit nicht in Abrede 
gestellt. Endlich kann auch eine bedeutende Änderung der Umstände, 
unter denen ein Tarifvertrag ins Leben trat, nicht ohne Einflufs auf 
seinen Fortbestand sein, falls nämlich von den Parteien selbst nichts 
für die Endigung des Vertragsverhältnisses vorgekehrt, namentlich 
keine Kündigung vereinbart worden ist. Dieser Unterlassung, mag 
sie willentlich oder unwillentlich erfolgt sein, kann nicht der Effekt 
heigelegt werden, dafs der Tarifvertrag fortwirken müsse, so lange er 
nicht regelrecht durch Vereinbarung oder durch Wegfall aller von 
ihm Betroffenen wieder aufgehoben worden sei. Das würde ebenso 
wider Treu und Glauben verstofsen, wie die völlige Mifsachtung solcher 
Tarifverträge wegen des Mangels einer Zeitbestimmung. Vielmehr 
muß jedem Tarifvertrag gemäfßs seiner Natur als temporärer Regelung 
künftiger Arbeitsverhältnisse (S. 792) eine Zeit kommen, da er die 
Wirkungskraft verliert, und der Abschluls von Arbeitsverträgen mög- 
lich wird, die von den Tarifbedingungen abweichen. Nur kann man 
diese Zeit nicht leicht allgemein bestimmen, ohne die Haltbarkeit der 
Tarifverträge zu gefährden, deren zeitlicher Geltungsbereich unbestimmt 
geblieben ist. Es mufs daher gesagt werden, dafs ein in dieser Hinsicht 
anbestimmter Tarifvertrag ein unvollständiger Thatbestand ist, der 
seine notwendige Ergänzung aus dem Üblichen zu empfangen hat. 
Ein solcher Tarifvertrag gilt nicht. länger als die Frist. welche Arbeit- 
‘ Auch die Auflösung der Vertretung einer Vertragspartei (z. B. der 
Lohnkommission, der Innung) ist unerheblich. 
? Vgl. BGB. 88 612. 632. 633, wonach in Ermangelung einer Taxe (S. 134) 
die übliche, d, h. die einer Üsance entsprechende Vergütung als vereinbart 
anzusehen ist.
	        
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