123
Programmvorlage „vollkommen übereinstimme" und daß er Lieb
knecht Nachgiebigkeit vorgeworfen hätte. (Bebel, Aus meinem Leben,
Zweiter Teil, S. 334/35.) Nimmt man jedoch Bebels Broschüre „Unsere
Ziele" zur Hand, so findet man in ihr vollkommen falsche Betrach
tungen über den Staat:
„Der Staat soll also aus einem auf Klassenherrschaft beruhenden
Staat in einen Volksstaat verwandelt werden.“ („Unsere Ziele“, Ausgabe
von 1SS6, S. 14.)
So zu lesen in der neunten (neunten!) Auflage der Bebelschen
Broschüre! Kein Wunder, daß die so hartnäckig wiederholten oppor
tunistischen Räsonnements über den Staat von der deutschen Sozial
demokratie aufgesaugt wurden, besonders da die revolutionären Er
läuterungen von Engels vor der Welt geheimgehalten wurden, und
die ganzen Lebensverhältnisse für lange Zeit von der Revolution
„entwöhnten".
DIE ÖKONOMISCHEN GRUNDLAGEN FÜR DAS
ABSTERBEN DES STAATES 1
Am ausführlichsten erörtert Marx diese Frage in seiner „Kritik
des Gothaer Programms" (Brief an Bracke vom 5. Mai 1875, veröffent
licht erst 1891 in der „Neuen Zeit", Jahrgang 9, Band I, in russischer
Sprache als Broschüre erschienen). Der polemische Teil dieses be
deutenden Werkes, der aus einer Kritik des Lassalleanertums besteht,
hat seinen positiven Teil sozusagen in den Schatten gestellt, näm
lich: die Analyse des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung des
Kommunismus und dem Absterben des Staates.
1. Die Fragestellung bei Marx
Bei einem oberflächlichen Vergleich des Briefes von Marx an
Bracke vom 5. Mai 1875 mit dem früher erwähnten Brief von Engels
an Bebel vom 18./28. März 1875 könnte es scheinen, als wäre Marx
viel mehr „Staatsverehrer" als Engels und als bestünde zwischen den
Auffassungen der beiden Verfasser über den Staat ein ganz erheb
licher Unterschied.
■ Engels empfiehlt Bebel, das ganze Gerede vom Staat überhaupt
fallenzulassen, das Wort „Staat" gänzlich aus dem Programm zu
1 In „Staat und Revolution“, V.Kapitel. Die Red.