Full text: Kritik des Gothaer Programms

AUS DEM BRIEF AN AUGUST BEBEL 
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London, l.Mai 1891 1 . 
Lieber Bebel, 
Ich antworte heute auf Deine beiden Briefe vom 30./III. und 25./IV. 
Mit Freuden habe ich gelesen, daß Eure silberne Hochzeit so schön 
verlaufen Ist und Euch Lust auf die künftige goldene gemacht hat. 
Daß Ihr beide sie erlebt, wünsche ich von Herzen. Wir brauchen Dich 
noch lange, nachdem mich — um mit dem alten Dessauer zu reden — 
der Teufel geholt hat. 
Ich muß, hoffentlich zum letztenmal, auf die Marxsche Programm 
kritik zurückkommen. Daß „gegen die Veröffentlichung an sich 
niemand Einspruch erhoben hätte", muß ich bestreiten. Liebknecht 
hätte sie nie gutwillig zugegeben und alles aufgeboten sie zu hindern. 
Diese Kritik liegt ihm seit 1875 so im Magen, daß er an sie denkt, 
sobald von „Programm" die Rede ist. Seine ganze Hallenser Rede 
dreht sich um sie. Sein pausbackiger ,,Vorwärts"-Artikel ist nur 
Ausdruck seines bösen Gewissens wegen eben derselben Kritik. Und 
in der Tat ist sie in erster Instanz gegen ihn gerichtet. Wir sahen 
und ich sehe ihn noch als den Vater des Einigungsprogramms — 
nach seiner laulen Seite hin — an. Und das war der Punkt, der mein 
einseitiges Vorgehen entschied. Hätte ich mit Dir allein die Sache 
durchberaten und dann sofort an K. Kautsky zum Abdruck schicken 
können, wir wären in zwei Stunden einig geworden. Aber so hielt 
ich Dich für — persönlich und parteilich — verpflichtet, auch Lieb 
knecht zu Räte zu ziehen.. Und dann wußte ich was kam. Entweder 
Unterdrückung oder offener Krakeel, wenigstens für eine Zeitlang, 
auch mit Dir, wenn ich doch vorging. Daß ich nicht unrecht hatte 
beweist mir folgendes: da Du am 1. April aus dem Loch kamst und 
das Aktenstück erst 5. Mai datiert, ist es klar — bis auf ander 
weitige Aufklärung —•, daß Dir das Ding absichtlich unterschlagen 
wurde, und zwar kann dies nur von Liebknecht geschehen sein. Du 
gibst aber um des lieben Friedens willen zu, daß er die Lüge in die 
Welt schickt, Du habest Brummens halber das Ding nicht zu sehen * 2 
1 In der auf Schreibmaschine hergestcilten Kopie dieses Briefes, die sich 
im Marx-Engels-Lenin-Tnstitut in Moskau befindet, ist dieser Brief am Anfang 
vom 8. Mai, gegen den Schluß dagegen vom 2, Mai datiert. Da aus dem Inhalt 
des Schlußteils des Briefes zweifelsfrei hervorgeht, daß er tatsächlich am 
2. Mai 1891 geschrieben wurde, kann gesehlußfolgert werden, daß der erste Teil 
am .1. Mai geschrieben worden ist. Die Ke d.
	        
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